Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
miteinander.
Die Beiträger der Ausstellung über »Die soziale Frage« und deren diskutierende Besucher hatten einen gemeinsamen Feind: den aufstrebenden Kapitalismus ihrer Zeit, dessen Ungleichheit und Unterdrückung. Sie waren der Überzeugung, dass der ungehemmte Kapitalismus keine gute Lebensqualität für die Massen zu schaffen vermochte. Die Ausstellung am Rande des Champ de Mars hielt sich jedoch nicht bei diesem Gegner auf. Sie war ein erwachseneres Forum als die auf Grenzüberschreitung zielende Ausstellung des modernen Kurators, die schockierte Reaktionen, Abscheu und Zorn auslösen will. Die Pariser hatten ihrem Projekt mit »Die soziale Frage« die richtige Bezeichnung gegeben. Wie konnte man eine andere Gesellschaft schaffen? Sozialistischer Kitsch – Arbeiter, die fröhliche Gesänge anstimmen, während sie für die Revolution arbeiten – fand sich nicht unter den Antworten. Außerdem waren die Reformvorschläge noch nicht zu bloßen Medienetiketten wie »Fairness« oder »die große Gesellschaft« verkommen (wie sie die britische Linke und Rechte kürzlich zu Markenzeichen ihrer Politik erhoben haben).
Die Aussteller hatten sich auf ein gemeinsames Thema geeinigt. Das Schlagwort in diesen Räumen lautete »Solidarität«, und man debattierte darüber, was das bedeutete. »Solidarität« bezeichnete damals allgemein den Zusammenhang zwischen alltäglichen sozialen Bindungen und politischer Organisation. Kooperation erfüllte diesen Zusammenhang mit Sinn. Die deutsche Gewerkschaftsorganisation, der französisch-katholische Arbeiterverein und die amerikanische Ausbildungswerkstatt zeigten drei Möglichkeiten auf, wie man durch direkte Kooperation Solidarität zu schaffen vermag. Die radikaleren unter den Pariser Ausstellern verstanden diese Beispiele kooperativer Bemühungen als Anregung, über das »sozial« in »Sozialismus« nachzudenken.
Wir sollten einen Augenblick bei dem Ausdruck »sozial« verweilen, denn er erlebte damals einen Gezeitenwechsel im soziologischen und sozialpolitischen Denken.
Ende des 19. Jahrhunderts strömten Migranten massenhaft in die europäischen Städte, und viele verließen den Kontinent endgültig Richtung Amerika. Die Industrialisierung erzeugte eine Geographie der Isolation, wo immer sie Fuß fasste, so dass sehr viele Arbeiter in der Fabrik wie auch zu Hause nur wenig über Menschen wussten, die anders waren als sie selbst. In ihrem Inneren verdichteten sich die Industriestädte, und die isolierten Klassen wurden immer enger zusammengedrängt. Wie konnte ein wechselseitiges Verständnis unter diesen Menschen entstehen, die einander nicht kannten, obwohl sie auf so engem Raum zusammengedrängt lebten?
Diese Frage beschäftigte Georg Simmel (1858–1918), der zwar nicht das Musée social besucht hatte, aber aufmerksam die Debatten über die soziale Frage verfolgte. Sein Werk war ein radikales Unternehmen, das Geschichte, Soziologie und Philosophie miteinander verband. Sein Leben ist beispielhaft für einen bestimmten Kampf um soziale Einbindung. Seine jüdische Herkunft schloss ihn bis fast zu seiner Lebensmitte vom deutschen akademischen Leben aus. Seine Heirat mit einer Protestantin entfremdete ihn seiner jüdischen Wurzeln. Er hatte allen Grund, sich als Außenseiter zu fühlen, auch wenn diese Stellung angesichts seiner Zugehörigkeit zum deutschen Bürgertum nicht lebensbedrohlich war. Dennoch empfand er seine Lage nicht als unerträglich. In seinen Augen war sie typisch für den modernen Menschen und barg sogar ein gewisses Versprechen.
Das soziale Leben der Moderne geht weit über das bloße Vergnügen hinaus, das die Menschen in Gesellschaft anderer erleben und das im Deutschen mit dem Ausdruck »Geselligkeit« umschrieben wird. In einem Vortrag, den Simmel 1910 in Frankfurt hielt, erklärte er, dieses Vergnügen sei universell und finde sich in jeder menschlichen Entwicklung, etwa wenn aus dem »gymnastischen Spiel« und dem Raufen der Kinder schrittweise der Austausch freundlicher Worte in einer Kneipe oder einem Kaffeehaus werde. 4 Im Blick auf die Migranten, die nach Deutschland kamen, meist sehr arme Juden aus Osteuropa, fragte er sich, was angesichts des Einbruchs dieser Fremden aus dem spielerischen, geselligen Vergnügen wird. Wenn ein Leben unter Fremden der Geselligkeit Abbruch tut, so meinte er, könne deren Anwesenheit auch das soziale Bewusstsein vertiefen. Die Ankunft eines Fremden kann die Menschen veranlassen, über Werte nachzudenken,
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