Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
an Anpassungs- und Kompromissbereitschaft zwischen den Gruppen. Da aber das Handeln auf nationaler oder europäischer Ebene die Hauptthemen des Kampfes bestimmte, blieb einzelnen Berufsgruppen oder lokalen Gemeinschaften in Praxis und Denken relativ wenig Spielraum. Wer stark sein will, braucht eine hierarchische Organisation. Wie Hannah Arendt hinsichtlich der auf der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft basierenden linken politischen Parteien in Deutschland bemerkt hat, galt die Gleichberechtigung der Mitglieder hinsichtlich der Meinungsbildung innerhalb der Organisation eher als Bedrohung denn als Bindemittel. 7
Es ist jedoch wichtig, eine straffe Führung von oben nicht bloß als Karikatur zu betrachten. Ferdinand Lassalle und seine Anhänger waren bereit, sich auf heftige Debatten einzulassen, führten strategische und ideologische Grabenkämpfe aber lieber im inneren Kreis, um der Öffentlichkeit das Bild einer Einheitsfront zu bieten. Jedes für die Öffentlichkeit erkennbare dialogische Wechselspiel von Ansichten und unkonventionellen Ideen konnte den nationalen Führern als politische Schwäche ausgelegt werden, bedurfte ein wirkungsvoller Kampf gegen die kapitalistischen Bosse doch der von oben nach unten hergestellten Einheit. Folglich fürchteten und unterdrückten sie Leute wie Gustav Keßler (1832–1904), der sich für den Vorrang örtlicher Gewerkschaften und Parteien einsetzte, die jeweils ihren eigenen, gelegentlich auch erratischen Weg gingen.
Die Bedingungen des Kampfes verliehen ihren Ansichten große Dringlichkeit, wie Samuel Gompers in Amerika und der fabianische Sozialist Edward Coulson in Großbritannien, beide zur Zeit der Weltausstellung führende Gestalten in der Organisation der Arbeiterschaft, nur allzu gut wussten. Diese Organisatoren der Arbeiterbewegung befanden sich in der Situation zahlenmäßig unterlegener Soldaten; ihr Recht auf Protest genoss nicht den Schutz des Staates, die Streikenden wurden oft von Unternehmern und angeheuerten Sicherheitskräften gewaltsam bedroht und ihre Gewerkschaften gelegentlich von eingeschleusten Informanten verraten. Im Innern erwiesen sich wilde Streiks in Europa und Amerika oft als gleichermaßen destabilisierend, denn spontanen Erhebungen fehlte es an Disziplin, so dass sie im Sande verliefen. In diesem Klima der Bedrohung und Unordnung musste Solidarität für eine straffe Organisation und eine feste Hierarchie sorgen. Würde die Führung ständig wechseln, gingen erworbenes Wissen und Erfahrung verloren. Neue Funktionäre müssten erst lernen, wie der Feind vorging. Das ist ein Grund, weshalb in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bei Gewerkschaftswahlen in Amerika, Großbritannien und Frankreich oft immer wieder dieselben Veteranen an die Spitze gewählt wurden.
Die meisten Leute im Musée social konnten auch auf eine Erinnerung zurückgreifen, die für klare Zielsetzungen und diszipliniertes Handeln sprach: die kurzlebige Pariser Kommune von 1871 nämlich, die nach dem Sturz Napoleons III. ein paar Monate lang in der von den Deutschen eingeschlossenen Stadt bestanden hatte. Unter einer wechselnden und schwachen Führung diskutierten die Pariser während der Belagerung über alle Aspekte des täglichen Lebens und stimmten darüber ab. Berichte aus der belagerten Stadt sprechen von alltäglicher gegenseitiger Hilfe und Unterstützung, etwa wenn es darum ging, das Fleisch der Tiere im Pariser Zoo friedlich unter den Bürgern aufzuteilen. Doch solche improvisierte Zusammenarbeit war noch keine erfolgreiche Überlebensstrategie, und die deutschen Truppen setzten der Kommune unter dem Beifall der Provinzbourgeoisie schon bald ein Ende. Danach geisterte die Kommune durch die Phantasien der europäischen Linken: die Akte individueller Großmut, die spontane gegenseitige Hilfe, aber auch ihr unausweichlicher Untergang.
Auf der anderen Seite der Trennungslinie schien man in einer anderen Welt zu leben. Die Reformer befassten sich mit sozialen Fragen wie dem Mangel an Bildung, der Organisation des Familienlebens, der Wohnsituation oder der Isolation von Neuankömmlingen in den Städten. Sozialarbeiter und Gewerkschafter der Linken waren der Ansicht, dass man diese Bedingungen nur verbessern konnte, wenn man den Wandel von unten nach oben organisierte. Dabei stützten sie sich auf eine im 19. Jahrhundert weit verbreitete Bewegung, die auf die Selbstorganisation in Vereinen oder Genossenschaften setzte und einen Vorläufer der heutigen
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