Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
Interessen gedient.
Forscher, die sich mit solchen Koalitionen befasst haben, verweisen auf einen komplizierten Prozess, der in den Hinterzimmern abläuft und in der Öffentlichkeit den Eindruck von Betrug und Verrat erzeugen kann. In Wirklichkeit geht es dabei um das Gesicht oder um die Wahrung des Gesichts. Koalitionen kommen meist deshalb zustande, weil beide Parteien zu schwach sind, um ihre Ziele allein zu erreichen. »Gesicht« bedeutet hier, dass der Wert des Partners und vor allem des schwächeren Juniorpartners anerkannt wird. Der Versuch, den Partner zur Unterwerfung zu zwingen, erweist sich in der Regel als kontraproduktiv. Erfolg oder Misserfolg einer Koalition hängen oft von scheinbar geringfügigen Fragen der Gesichtswahrung ab. Hat man mit dem Juniorpartner gesprochen, bevor man vor die Presse trat? Wie spricht man mit dem Partner am Verhandlungstisch? Selbst die Sitzordnung hat hier ihre Bedeutung. Die Missachtung der für die Gesichtswahrung zuständigen Regeln kann ein Bündnis zerstören, selbst wenn es im Interesse aller Beteiligten wäre, daran festzuhalten.
Gesichtswahrung ist ein Kooperationsritual. Der Anthropologe Frank Henderson Stewart glaubt, alle Gesellschaften bilden Rituale aus, die dem Starken und dem Schwachen die Teilhabe an einem gemeinsamen Ehrenkodex ermöglichen. 9 In der Politik kann ein Ehrenkodex dieser Art sich indessen als zu schwach erweisen. So versäumte es die britische Labour Party nach den Wahlen 2010 , sich bei ihren Verhandlungen mit den Liberaldemokraten um gesichtswahrende Rituale zu bemühen. Angesichts des höheren Stimmanteils behandelte Labour die Liberalen ohne sonderlichen Respekt und belehrte sie in schulmeisterlicher Art, was sie als die kleinere Partei erwarten bzw. nicht erwarten durften. Damit trieb sie den potenziellen Partner in die Arme der Konservativen, die ihm mit Respekt begegneten. 10 Statt die Liberalen in der Öffentlichkeit zu kompromittieren, zollten die Konservativen ihnen im Hinterzimmer Anerkennung.
Problematisch an gesichtswahrenden Ritualen in der Politik ist die Tatsache, dass Außenstehende sie nicht zu durchschauen vermögen. Sie sind nach innen inklusiv, nach außen unsichtbar – oder schlimmer noch, die Kameraderie und das Lächeln, die zur Schau getragen werden, wenn man den Verhandlungsraum verlässt, werden von Außenstehenden leicht als Zeichen eines Ausverkaufs gedeutet.
Die Entfremdung der Führungsspitze von der Basis hat noch eine weitere Dimension, und zwar in der zwischen Politik und Medien geschlossenen Koalition.
Viele der politischen Führer, die das Musée social besuchten, hatten vorher eine Zeitlang als Journalisten gearbeitet. Karl Kautsky, eine der Lichtgestalten um 1900 , hatte solch eine Karriere hinter sich, und schon Karl Marx hatte bewiesen, dass er ein ausgezeichneter Journalist war. Diese Verbindung hatte bereits eine längere Geschichte. Im 18. Jahrhundert konnte eine aufrüttelnde Streitschrift jemanden wie den Gefängnisreformer Cesare Beccaria in ein politisches Amt hieven. Die politische Bühne Frankreichs und Großbritanniens war voll von Pamphletisten-Politikern. Im 19. Jahrhundert wurde das Bündnis zwischen Politik und Journalismus professionalisierter, als die Druckkosten sanken, die Zahl der des Lesens kundigen Arbeiter stieg und das Zeitunglesen tatsächlich weite Verbreitung fand. Nun konnten radikale Journalisten ein Massenpublikum erreichen. Expliziter Meinungsjournalismus kam erstmals im Feuilleton sehr großer Tageszeitungen auf – sie sind der Ursprung der heutigen Meinungsseiten. Der professionelle Kommentator wurde zu einer öffentlichen Figur.
Auch wenn der Kommentator ein Journalist blieb, wurde die Verbindung zwischen Politik und Medien enger. Bei den Linken lag das zum Teil an dem Anspruch, »den Mächtigen die Wahrheit zu sagen«, das heißt, die Aufmerksamkeit der Mächtigen zu erregen. Darüber hinaus kam es aber auch zu einer Symbiose der Rhetorik. Professionelle Kommentatoren, die den Mächtigen die Wahrheit sagten, taten dies nach eigenem Anspruch im Namen der einfachen Leute, indem sie etwa deren Nöte darstellten und deren Empörung Ausdruck verliehen. Umgekehrt wandten sie sich als Insider an das Massenpublikum und hoben den Vorhang vor dem Geschehen in den Hinterzimmern, mit dem sie dank ihrer Kontakte und des Insiderklatsches vertraut waren. Auch sie sprachen eher zu den Menschen als mit ihnen.
Online-Blogs sollen dieser Entwicklung angeblich entgegenwirken, da
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