Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
Straßen der Gemeinde zu gehen, mit den Menschen zu plaudern, sie zusammenzubringen und das Beste zu hoffen. Er sagte den Leuten niemals, was sie zu tun hätten, sondern ermunterte die Schüchternen, selbst zu sprechen, wobei er dort, wo dies nötig schien, in neutraler Weise Informationen beisteuerte. Lustig und temperamentvoll – »Das Saufen ist das wichtigste Werkzeug des Gemeinwesenarbeiters«, sagte er meiner Mutter einmal –, zog er junge Anhänger in seinen Bann. Dazu gehörten auch Barack Obama und Hillary Rodham Clinton, die beide später vom Weg ihres Lehrers abwichen. 14
Zu den Dingen, mit denen Alinsky sich besonders intensiv auseinandersetzte, gehörte der Unterschied zwischen dem Umgang der Gewerkschaften und dem der Gemeinwesenarbeiter mit den Unterdrückten. Er stellt diesen Unterschied ganz unverblümt heraus, wenn er erklärt, »daß Gewerkschaftsfunktionäre nicht unbedingt auch gute Gemeinwesenarbeiter« seien. In Hinterzimmern geschlossene Koalitionen zur Bildung einer Einheitsfront können keine starken Bindungen innerhalb des Stadtviertels hervorbringen. Die Ausrichtung auf die Einheitsfront muss überdacht werden, weil Klarheit und Genauigkeit die lokale Gemeinschaft nicht beflügeln. Wie Alinsky bei seinen Kämpfen in Chicago erlebt hatte, arbeiteten Gewerkschaftsfunktionäre ganz anders:
Ihre Erfahrung gründete sich auf die starren Zielvorstellungen von Lohnforderungen, Betriebsrenten, Urlaubszeiten und anderen Arbeitsbedingungen sowie deren Verankerung in den Tarifverträgen … Eine Bürgerbewegung hingegen läßt sich nicht wie ein stubenreiner Hund handhaben. Dabei gibt es keine zeitlichen Fixpunkte und vorgefertigten Lösungspunkte. Die Anforderungen wechseln dauernd; die Umstände sind immer wieder andere. Mit zeitlichen und finanziellen Kriterien allein lassen sich die Zielsetzungen nicht immer fassen … 15
Es handelt sich um einen dialogischen Austausch reinster Prägung. Oder anders gesagt, der soziale Prozess der Hinterzimmerverhandlungen wird in der Gemeinwesenarbeit samt seinen Konflikten und gesichtswahrenden Ritualen in die Öffentlichkeit geholt. Alinsky legte das Schwergewicht auf den informellen Charakter dieses Prozesses, eine Zwanglosigkeit, auf die der Gewerkschafter verzichtet, von der aber der Gemeinwesenarbeiter Gebrauch macht. Der an Alinskys Methode orientierte Gemeinwesenarbeiter hofft, ein dialogisch ausgerichtetes Gespräch in Gang zu bringen, indem er Menschen zusammenbringt, die noch nie wirklich geredet haben, indem er sie mit Fakten versorgt, die ihnen unbekannt waren, und indem er weitere Kontakte anregt.
Dieser Herausforderung hatten die Nachbarschaftsheime sich schon früher gestellt. Heute verdammen Linke oft Wohltätigkeit, weil sie die Armen entwürdige, doch ohne ehrenamtliche Helfer, die in Einrichtungen wie Hull House arbeiteten, wäre das Leben der Armen noch sehr viel schlimmer gewesen. Anfang des 20. Jahrhunderts kam noch hinzu, dass viele Bewohner dieser Stadtviertel ganz buchstäblich nicht miteinander sprechen konnten. Das Nachbarschaftsheim sollte friedliche, wenn auch unvollkommene sprachliche Kontakte zwischen den Einwandererghettos herstellen.
Im verklärenden Blick auf die Vergangenheit erscheinen die Immigrantengemeinden als eng verflochtene Gemeinschaften. In Wirklichkeit kämpften die Einwanderer in den überfüllten Mietshäusern und Straßen Chicagos und anderer amerikanischer Städte erbittert um Territorien. Das Proletariat, das Europa verlassen hatte, war durch die Entwurzelung orientierungslos geworden. In Chicago wunderte Addams sich über den Umstand, dass die Einwanderer, die sich in der Tat nur in Gemeinschaft von Menschen wohlfühlten, die sie kannten (was ihre marginale Stellung nur verfestigte), selbst dort keine starken Bindungen eingingen. Und die fremde Stadt ließ alte Bindungen mit der Zeit ausbleichen. Die Masse der Einwanderer, die den amerikanischen Traum nicht verwirklichten und arm blieben, resignierte zunehmend und versank in Passivität. Addams sagte, sie könne solche Menschen auf der Straße auf Anhieb erkennen. Es seien jene, die stumm auf den Treppenstufen säßen, niedergeschlagen und in sich zurückgezogen, und die sich nur selten in Kirchen oder Gewerkschaftshäusern blicken ließen.
In den Nachbarschaftsheimen stellte sich die soziale Frage daher in zweierlei Weise: Wie konnte man die Leute zur Kooperation mit Menschen ermuntern, die anders waren? Und wie konnte man den Wunsch stimulieren,
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