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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sennett Richard
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sich überhaupt mit anderen zusammenzutun? Konkret bedeutete das vor einem Jahrhundert, dass man in den Nachbarschaftsheimen herauszufinden versuchte, wie man den jüdischen Einwanderer aus Polen dazu brachte, mit seinem italienischen Nachbarn zu reden oder auch nur reden zu wollen – eine Aufgabe, die sich heute in anderer Form in europäischen Städten im Verhältnis zwischen Muslimen und Nichtmuslimen stellt. In ihrem eigenen Denken formulierte Addams die soziale Frage im Sinne dessen, was wir heute Multikulturalismus nennen. Für sie war Multikulturalismus ein Problem. Das Wort selbst sagt nicht, wie man zusammenleben soll. 16
    Addams reagierte auf die Probleme des Unterschieds und der Partizipation auf erstaunlich einfache Weise. Sie konzentrierte sich auf die Alltagserfahrung – Kindererziehung, Schule, Einkaufen. Nicht auf politische Formeln komme es in den sozialen Beziehungen an, sondern auf die ganz gewöhnliche Erfahrung. Darin nahm sie Saul Alinsky vorweg. Die Probe auf gemeinsames Handeln seien dessen konkrete Folgen für das tägliche Leben und nicht Auswirkungen in Gestalt irgendwann einmal einzulösender politischer Versprechen. Welche Rolle sollte direkte persönliche Kooperation in der Gestaltung alltäglicher Erfahrung spielen? Auch hier nahm Addams Alinskys Vorstellungen vorweg. Hull House legte das Schwergewicht nicht auf einen strengen, sondern einen zwanglosen Austausch und machte damit aus der Ungezwungenheit eine Tugend.
    Gemeinsam mit ihrer Mitstreiterin Ellen Gates Starr fand Addams ein relativ stattliches, im italienischen Stil gehaltenes Gebäude in der Near West Side von Chicago und gründete dort 1889 inmitten eines überfüllten Slums ein Gemeindezentrum. Dort konnten die Menschen organisierten Aktivitäten nachgehen – oder gar nichts tun. Die prachtvolle Fassade des Gebäudes mag die Armen abgeschreckt haben, doch das Innere war mit seinen abgeteilten Räumen und belebten Fluren einladender. Ungezwungenheit kennzeichnete auch das Leben in Toynbee Hall, dem Pendant zu Hull House im Londoner East End. Dort konnte man einfach nur sitzen und entspannen oder organisierten Aktivitäten nachgehen. Die Menschen unternahmen gemeinsam Dinge oder blieben für sich, frei vom Druck der Straße. Die Organisatoren der beiden Einrichtungen sahen darin in erster Linie Zufluchtsorte. Ein festes Programm für soziale Aktivitäten, wie man es heute auf Kreuzfahrtschiffen findet, galt es in ihren Augen zu vermeiden.
    Im Hull House kamen wechselnde Besucher aus dem Viertel und ständige Mitarbeiter mit Hochschulausbildung zusammen. Diese Mitarbeiter – viele unter dem Einfluss Ruskin’scher Vorstellungen in Bezug auf die Einheit von Hand und Kopf – hielten Kurse in handwerklichen Fertigkeiten wie Buchbinden ab, inszenierten Theaterstücke oder kümmerten sich um den Jugendclub (im Archiv der Einrichtung sah ich einmal die Fotografie eines recht dandyhaft wirkenden jungen Mannes, der ein wenig besorgt dreinblickte, während er ein Stickballspiel zwischen recht robust wirkenden Jungen aus der Nachbarschaft beaufsichtigte). 17 Am stärksten zeigte sich die Kooperation im Englischunterricht. Dort kamen Einwanderer aus den unterschiedlichsten Ländern zusammen, die sich nur auf Englisch untereinander verständigen konnten. Es gab keine getrennten Klassen für Italiener, Griechen oder Juden und keinen zweisprachigen Unterricht. Aufgrund dieser Mischung fand man sich im Unterricht in einem gemeinsamen Kampf mit der englischen Sprache, man spielte mit Wörtern, man diskutierte und stritt auch manchmal über ihre Bedeutung.
    Der Gemeinwesenarbeiter hatte und hat die Aufgabe, Menschen aus ärmeren Schichten, die sich paralysiert fühlen, zu motivieren, ob es sich nun um Ausländer oder einfach um Verlierer im kapitalistischen Spiel handelt. Um die Menschen aus ihrer Passivität zu holen, muss der Gemeinwesenarbeiter sich auf die unmittelbare Erfahrung konzentrieren, statt zum Beispiel die Übel des Kapitalismus anzuprangern, denn dieses große Bild verstärkt eher noch das Gefühl, dass es keinen Sinn habe, sich zu engagieren. Um Partizipation zu ermöglichen, kann der Gemeinwesenarbeiter stillschweigende Regeln einführen, Konventionen und Rituale für den Umgang miteinander, wie sie etwa in Hull House für den Englischunterricht galten, dann aber muss er zulassen, dass die Menschen frei miteinander interagieren. Die in Chicago tätige Sozialarbeiterin Charlotte Towle, ein Schützling von Jane Addams,

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