Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
eine Kranken- und eine Rentenversicherung, und in den 1890ern verbesserte sie die Schulausbildung der ärmeren Bevölkerungsschichten. Dabei ging es Bismarck nicht um Wohltätigkeit. Er wollte die Linke politisch vernichten, indem er deren Sozialprogramme übernahm. Und die Wohlfahrt, die seine Regierung verwirklichte, war durchaus real.
Obwohl man Deutschland in der wissenschaftlichen Welt um seine Universitäten beneidete, war die Realschule doch für die Arbeiterklasse die wichtigere Institution. ** Diese sechsjährige Sekundarschule bot eine gute Ausbildung in handwerklichen Berufen; dort lernten die Schüler, Geschäftsbriefe zu schreiben und die Buchführung zu verstehen. Wer die Realschule absolviert hatte, war bestens auf eine Anstellung in einer Werkstatt oder einem Büro vorbereitet. In der Kaiserzeit begann man in Deutschland auch den Übergang von der Ausbildung in den Beruf zu erleichtern. In der Pariser Ausstellung waren die Früchte dieses Systems an den Wänden zu besichtigen. Auf Fotografien sah man makellos saubere Klassenzimmer oder Kinder, die stolz die von ihnen in der Schulwerkstatt gefertigten Maschinen herzeigten. Und in Kopie konnte man knappe Bewerbungsschreiben an potenzielle Arbeitgeber betrachten.
In Deutschland drängten politische Parteien wie Lassalles Sozialdemokratische Partei schon früh auf solche Verbesserungen, die man in Hinterzimmerverhandlungen mit dem konservativen Kanzler erreichte. Doch die Reformer konnten sich nur schwer dieser Erfolge rühmen. Je mehr die Linke bei den Reformen kooperierte, desto mehr lief sie Gefahr, die eigene Identität zu verlieren, denn bei den Hinterzimmerverhandlungen ließ man sich auf komplizierte bürokratische Regelungen ein, die man der Öffentlichkeit niemals erläuterte. So wurde die politische Linke immer stärker in den undurchsichtigen Staatsapparat eingebunden. Es wurde immer schwieriger, den Unterschied zwischen Reform und Gleichschaltung zu erkennen.
Das war und ist kein ausschließlich deutsches Problem. In Großbritannien verliert die Liberaldemokratische Partei heute in der Koalition mit den Konservativen ihre Identität. Wie im Verhältnis zwischen den Parteien, so verwässert der Kompromiss auch innerhalb der Parteien die Identität. In Amerika fürchten rechtsgerichtete Abgeordnete der Tea Party, einen Teil ihrer Besonderheit einzubüßen, wenn sie sich in den Apparat der Republikanischen Partei einbinden lassen. Kritiker können in Hinterzimmern ausgehandelte Kompromisse stets als Ausverkauf brandmarken, und die nach außen demonstrierte Einheit könnte als bloße Fassade abgetan werden. Lehnstuhlzynismus mag ja genau dies sein, nämlich Lehnstuhlzynismus, doch Kooperation in den obersten Rängen der Macht führt in allen Koalitionen zu einem strukturellen Problem: zum Verlust der Verbindung zwischen Spitze und Basis.
An dieser Entwicklung hat die Bürokratie erheblichen Anteil. Im späten 19. Jahrhundert nahm das Machtstreben der Linken eine neue Wende, als die politischen Parteien sich auf Gewerkschaften zu stützen begannen – eine Verbindung, die uns heute selbstverständlich erscheint. Durch die Verschmelzung von Partei- und Gewerkschaftspolitik wuchsen die sozialistischen Gruppen in Europa zu beträchtlicher Größe an, aber das Wachstum führte zu einem regelrechten Wald von Abteilungen und hierarchischen Ebenen innerhalb der Organisationen, mit der Folge, dass direkte Beziehungen zur Basis ständig an Bedeutung verloren. Ganz unabhängig von den Inhalten ihrer Politik ist dies der Preis, den die meisten politischen Bewegungen zu zahlen haben, wenn sie eine gewisse Größe erreichen.
Die Kluft vertieft sich noch, wenn viele verschiedene Gruppen in den Hinterzimmern zusammenkommen. Da in den Verhandlungen nun auch mehr Interessen unter einen Hut gebracht werden müssen, werden die erzielten Übereinkünfte umfangreicher und komplizierter, so dass es den von den verschiedenen Parteien vertretenen Menschen immer schwerer fällt, sich darin repräsentiert zu sehen. Ein gutes Beispiel dafür waren die umweltpolitischen Koalitionen in Deutschland und Italien. Die Koalitionsregierung in Deutschland, der nur zwei Parteien angehörten, gelangte zu klaren Vereinbarungen, in denen die grüne Basis ihre Interessen zumindest teilweise berücksichtigt sah. In der italienischen Politik sind Koalitionen dagegen so byzantinisch, dass nur wenige Mitglieder der daran beteiligten Umweltparteien der Ansicht sind, sie hätten ihren
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