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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sennett Richard
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leiten! Die Begegnungen, die auf diese Weise zustande kamen, waren allerdings vielfach auf lange Sicht recht fließend und unbestimmt.
    Die Werkstatt versuchte dieser unsteten Erfahrung zu begegnen, indem sie der Kooperation klarere Gestalt verlieh. Das Hampton und das Tuskegee Institute konzentrierten sich zu diesem Zweck auf die Vermittlung von Fertigkeiten im Rahmen einer Gemeinschaft, Fertigkeiten, die dann auch an anderen Orten und unter anderen Umständen genutzt werden konnten. Dabei stützten diese Institute sich auf eine Reihe von Leitlinien zur gemeinschaftlichen Arbeit, die erstmals in Robert Owens »Rochdale-Prinzipien« formuliert worden waren. In der Praxis konnten diese Prinzipien freilich zu einem Paradoxon führen: ein Verhältnis der Gegenseitigkeit zwischen den Mitgliedern der Werkstatt, aber dennoch Gehorsam gegenüber einem Leiter, der bestimmte, wie sie leben sollten. Trotzdem bestand in den Instituten ein echtes Gegenseitigkeitsverhältnis, das technische Kompetenz in gemeinschaftliche soziale Erfahrung verwandelte.
    Der Mann, dessen Leben und Werk diesen Gegensatz wohl am deutlichsten zum Ausdruck brachte, war Karl Kautsky (1854–1938). Der geborene Wiener vollzog in Deutschland einen Karrierewechsel vom Journalisten zum Politiker. In jungen Jahren gründete er die Monatszeitschrift Die neue Zeit , in mittleren Jahren wurde er zu einem Verfechter der Lehre von der Unvermeidlichkeit der Revolution, und als es am Ende des Ersten Weltkriegs in Deutschland tatsächlich zur Revolution kam, ging er ins Außenministerium. In seinen langen Jahren als politischer Aktivist wusste er sehr genau, dass die sozialen Reformen in Deutschland zum Stillstand kommen würden, falls seine Bewegung ihre politische Schlagkraft verlor. Doch als älterer Mann erlebte er eine Desillusionierung, als er 1920 eine Reise nach Georgien und Russland unternahm und dort die Sozialdemokratie in Georgien mit der Diktatur des Proletariats in Russland verglich. Lenin beschimpfte ihn daraufhin als »Renegaten«, dem es an »revolutionärem Willen« fehle.
    Als meine Mutter Karl Kautsky 1934 in Wien besuchte, wohin er sich zurückgezogen hatte, versuchte er, das Soziale am Sozialismus deutlicher herauszuarbeiten – Gedanken, die er in seinem Buch Die proletarische Revolution und ihr Programm niedergelegt hatte. 28 Wie Freud floh Kautsky nach dem Anschluss Österreichs 1938 aus Wien und starb wenig später. In Wien, wo er unter Bewachung lebte, weil Stalin ihn ermorden lassen wollte, erschien seine Wohnung meiner Mutter wie eine Bibliothek, in der die Bücher niemals auf Regalen eingeordnet worden waren, als hätte dieser unendlich gebildete Mann nicht mehr gewusst, wohin er sie stellen und wie er Ordnung und Zusammenhalt in dieses private Museum zur »sozialen Frage« bringen sollte. Dennoch bemühte er sich weiterhin herauszufinden, wie Zusammenarbeit funktioniert. Die von Robert Owen gefeierten Werkstätten schienen der Schlüssel für die Herstellung von Gegenseitigkeit zu sein, doch Kautsky glaubte nicht, dass diese Utopie im Alltag auf Dauer Bestand haben konnte.
    Die Unordnung in Kautskys Bibliothek ist ein Vermächtnis der Pariser Weltausstellung, der Konfusion im Blick auf die Frage, wie Kooperation bewerkstelligt werden soll. Die Mahnung des späten Kautsky zu aktiver Kooperation statt bloßer Toleranz ist ein weiteres Vermächtnis – und das nicht nur für die Linke. Jeder Einzelne und jede Gruppe, die Veränderungen von unten bewirken wollen, müssen sich dieser Herausforderung stellen. Und die Herausforderung ist besonders groß, wenn es um die Zusammenarbeit mit Menschen geht, die keine bloßen Kopien unserer selbst sind.
    Eines ist in unserer Diskussion allerdings unberücksichtigt geblieben: die Konkurrenz. In politischen Koalitionen, in Vereinen und Gruppen jeglicher Art, unter Menschen, die gemeinsam eine Arbeit verrichten, mag es scheinen, als stünde Konkurrenz der Kooperation im Wege. Und tatsächlich besteht, wie wir gleich sehen werden, zwischen Kooperation und Konkurrenz ein enger Zusammenhang.

ZWEITER TEIL
    Geschwächte Kooperation

V Das soziale Dreieck
    Die Erosion der sozialen Beziehungen
    in der Arbeitswelt

    Als junger Soziologe interviewte ich in den 1970er Jahren in Boston im Rahmen meiner Feldforschung weiße amerikanische Familien aus der Arbeiterschicht. 1 Der Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg hatte diesen Arbeitern ein unendlich besseres Leben beschieden, als sie es in ihrer

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