Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
Kooperation und Störung her – den Klatsch wollen wir hier einmal beiseitelassen. Ob negativ oder positiv, all diese Beziehungen erfordern eine mitunter recht subtile Kommunikation. Die Seiten des sozialen Dreiecks werden außerdem gestärkt, wenn die jeweils anderen gestärkt werden. Das Vertrauen wächst, wenn man mit einer Störung fertigwird, ebenso die Autorität. Es handelt sich hier insgesamt um eine subtile und kohärente soziale Struktur.
Das Boston Labor Bureau klassifizierte die meisten Jobs in den von uns untersuchten Betrieben als Arbeitsplätze für ungelernte oder angelernte Arbeitskräfte, was so nicht stimmt. Wer solch informelle soziale Beziehungen praktizieren will, muss die anderen gut kennen. Er muss zum Beispiel wissen, auf wen er in Notfällen zurückgreifen und auf wen er sich nicht verlassen kann oder wer es wert ist, dass man für ihn lügt. Außerdem muss man seinen Betrieb gut kennen. Die Bäcker in Boston wussten sich zu helfen, wenn es zu einem Brand kam, und die Putzkolonne organisierte ihre Arbeit nicht nach dem Gewerkschaftshandbuch, sondern passte sie den wechselnden Erfordernissen der verschiedenen Abteilungen an. Informelle soziale Beziehungen erfordern ein Kontextwissen, einen Kontext, den man gemeinsam befragt und interpretiert.
Das informelle soziale Dreieck kann sich in Organisationen jeglicher Art zeigen, in Krankenhäusern und Schulen, Kirchen und Gemeindegruppen, beim Militär, in Büros und Fabriken. Man könnte eigentlich meinen, jede Organisation hätte ein Interesse daran, interne informelle Bindungen dieser Art zu fördern, um den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Doch dazu müssen Organisationen einer wichtigen Anforderung genügen, die manche womöglich nicht erfüllen können. Die Institutionen müssen ein gewisses Alter haben und über eine gewisse zeitliche Stabilität verfügen. Nur unter solchen Bedingungen können die Menschen dort lernen, wie die Organisation im Einzelnen funktioniert. In der letzten Generation hat sich der Kapitalismus jedoch von jenen zeitlich stabilen Institutionen entfernt, in denen Arbeiter wie die in Boston verwurzelt waren. Ein Grund liegt darin, dass Amerika und große Teile Europas die Zahl an Fabrikarbeitern generell abgebaut haben und stattdessen versuchen, Dienstleistungsgesellschaften zu werden. Ein weiterer Grund liegt in der Tatsache, dass moderne Organisationen heute im privaten wie auch im öffentlichen Sektor kurzfristiger orientiert sind. Deshalb wissen die Menschen heute weniger übereinander und über ihre eigene Institution. Die Finanzbranche spielt bei dieser Veränderung eine Vorreiterrolle. Dort ähnelt die institutionstypische Zeit inzwischen am wenigsten der früheren Erfahrung der Menschen am Montageband. So kann es denn nicht überraschen, dass im Bereich der Finanzdienstleistungen das soziale Dreieck zerbrochen ist, und zwar in dramatischer Weise.
Die zersetzende Zeit
Zu Beginn des amerikanischen Wohlstands nach dem Zweiten Weltkrieg ähnelte Wall Street noch auf vielleicht seltsame Weise seinen industriellen Vettern. Es war durchaus angemessen, wenn man die Finanzbranche im englischen Sprachraum als »Finanzindustrie« bezeichnete. Die meisten Firmen existierten bereits seit Jahrzehnten oder sogar seit einem Jahrhundert und länger. Lehman Brothers, JP Morgan und ihresgleichen waren stolz darauf, alteingesessene Unternehmen zu sein. In Banken und Investmenthäusern machten die meisten Angestellten eine Jahrzehnte währende Karriere innerhalb ein und desselben Unternehmens. Diese Aura der Beständigkeit und die langfristigen Anstellungsverhältnisse waren keineswegs auf New York beschränkt. Der Historiker David Kynaston hat aufgezeigt, dass Firmen wie Barings und Coutts in der Londoner City leise für sich warben, indem sie auf ihr Alter hinwiesen. Auch in der Londoner City waren die Firmen stolz darauf, dass die meisten Angestellten ihr Leben lang blieben. 8 Langfristige Arbeitsverhältnisse waren auch bei den von mir befragten Arbeitern in Boston die Regel. Sie hatten im Lauf ihres Lebens in allenfalls zwei oder drei Fabriken gearbeitet, die zum festen Bestand der Stadt gehörten.
Abgesehen vom Gegensatz zwischen Reichtum und Armut, gab es natürlich einen weiteren großen Unterschied zwischen Bankangestellten und Industriearbeitern im Blick auf ihre Zeiterfahrung: Nach dem Zweiten Weltkrieg litt das Industrieproletariat wiederholt unter traumatisierenden Phasen großer Arbeitslosigkeit, die nicht mit
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