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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sennett Richard
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ihren Nischen hervor, während die Befehlskette kurzzeitig außer Kraft gesetzt wurde.
    Krisenhafte Augenblicke wie dieser enthüllen die Zerbrechlichkeit formaler Organisation und umgekehrt die Stärke informeller Zusammenarbeit. Das ist ein großes Thema in Romanen wie Joseph Hellers Catch-22 , in dem Soldaten nur deshalb überleben, weil sie Befehle missachten und gemeinsam herauszufinden versuchen, wie sie mit der Lage fertigwerden können. Der Soziologe Tom Juravich hat gezeigt, dass die reale Arbeitswelt nur allzu oft der Situation in Catch-22 ähnelt. 6 Zu Beginn des Industriezeitalters beschrieb Adam Smith in seiner Abhandlung über den Reichtum der Nationen die Routinearbeit in den Fabriken als unendlich abstumpfend und geisttötend, eine Sicht, die mit der Zeit nahezu universelle Verbreitung fand. 7 Industrielle Arbeitsplätze können diese Wirkung haben, müssen es aber nicht unvermeidlich. Jeder Bruch in der Routine kann die Menschen anregen – und wenn sie solch eine Anregung erfahren, wechseln sie in den informellen Bereich. Dazu bedarf es gar keiner großen Krisen, auch scheinbar triviale Dinge können solch eine Anregung und solch einen Wechsel bewirken. In einer Fabrik, die ich kennenlernte, redeten die Beschäftigten einer Putzkolonne über ungewöhnliche Abfälle, Nahrungsmittel oder sogar Kleidungsstücke, die sie in den Papierkörben gefunden hatten. Und in einer Sortierstelle der Post, in der die Arbeit eine extrem langweilige Routinetätigkeit darstellte, plauderten die Beschäftigten miteinander, während ihre Hände den endlosen Strom der auf Fließbändern vorüberziehenden Briefe sortierten. In diesen kleinen Vorfällen zeigt sich ein natürlicher Impuls: Die Menschen wünschen sich Anregung. Die in Catch-22 dargestellte Krise bietet eine von außen kommende Anregung. Die Menschen können sie aber auch aus sich selbst heraus schaffen.
    Klatsch und Tratsch stimulieren durch die Dramatisierung trivialer Informationen oder Ereignisse. Sie erregen die größte Aufmerksamkeit, wenn sie zu einem Minitheater voller Schockmomente werden: »Du wirst es nicht glauben …« Außerdem unterstellt der Erzählende, dass die anderen »kapieren« werden, ansonsten erklärt er die Dinge, bis die anderen sie verstanden haben. Man wünscht sich keine passiven Zuhörer. Der meiste Klatsch ist boshaft. Die Darstellung einer großzügigen Tat reizt uns meist weniger als die einer abscheulichen. Dennoch wurde mir damals in den Bostoner Fabriken immer klarer, dass die hinter Klatsch und Tratsch steckenden Motive auch Menschen in ihrer Arbeit zu stimulieren vermögen. Nicht nur Geplauder kann die Langeweile bei der Arbeit vertreiben, sondern auch das Lösen von Problemen, das gleichfalls einen Bruch der Routine darstellt.
    Die Schuhfabrik erhielt zum Beispiel einmal verschmutztes Leder aus Argentinien. Einer der Arbeiter wusste sogleich, was zu tun war, tat es aber erst, nachdem er den anderen erklärt hatte, was die Verschmutzung verursacht hatte und mit welchen Chemikalien man sie beseitigen konnte. Er sorgte dafür, dass sie die Zusammenhänge verstanden. Obwohl es sich weder um eine Krisensituation noch um bloßen Klatsch handelte, erforderte die Problemlösung in diesem Fall dennoch, dass der Mann andere auf Ungewöhnliches aufmerksam machte und sein Wissen mit ihnen teilte: eine kooperative Kommunikation, die keine Routine darstellt. Wie bei einem guten Gespräch kann man auch beim Umgang mit einem schwierigen Problem nicht einfach auf Verfahren zurückgreifen, die als gesichert gelten. In sozialer Hinsicht und vielleicht ein wenig wider Erwarten erweisen sich Störungen im Arbeitsprozess oft als Ereignisse, die Bindungen schaffen.
    Aufbrausende Vorgesetzte, Lügen zum Schutz alkoholabhängiger Arbeitskollegen und Klatsch sind gewiss keine leuchtenden Beispiele einer unseres Erachtens qualitativ hochwertigen Arbeit. Aber sie können durchaus Bestandteile eines positiven Sozialverhaltens sein: Rituale, die Zorn in Respekt verwandeln, die Bereitschaft, anderen eine Chance zu geben, und der Wunsch, aus dem Gefängnis der Routine auszubrechen. Und wenn wir einen Schritt zurücktreten, können wir auch die sozialen Beziehungen entdecken, in die sie eingebettet sind: Die Rituale sind Teil des Gewebes verdienter Autorität, die schützende Lüge gehört in den Bereich des Vertrauens, das einen Glaubenssprung erfordert, und Krisenmanagement wie auch das Lösen von Problemen stellen eine Verbindung zwischen

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