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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sennett Richard
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ähnlicher Schärfe auf den Finanzsektor durchschlugen. Wenn es dann wieder Arbeit für die Industriearbeiter gab, kehrten sie meist in ihre alten Betriebe zurück. Das ist ein auffälliger Befund für die ersten drei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. Sowohl in Amerika als auch in Großbritannien blieben die Industriearbeiter meist am Ort und suchten nicht anderswo nach besserer Arbeit. 9 Im gesamten 19. Jahrhundert und während der Weltwirtschaftskrise war das in beiden Ländern noch anders gewesen.
    Wir dürfen jedoch die Stabilität der Nachkriegszeit nicht nostalgisch verklären. Sowohl in der Industrie als auch im Finanzsektor verhielten alteingesessene Unternehmen sich oft wenig flexibel, schwerfällig und selbstzufrieden. Außerdem sorgte die Industriebürokratie in den Fabriken für eine rigide und autoritäre Zeiterfahrung. Als der Soziologe Daniel Bell in den 1950er Jahren in Michigan die Willow-Run-Fabrik von General Motors untersuchte, war er erstaunt, dass man dort »die Stunde in zehn Sechs-Minuten-Abschnitte unterteilte … und die Arbeiter nach Zehntel-Arbeitsstunden bezahlt wurden«. 10 Ähnliche Mikrokalkulationen waren auch bei einfachen Bankangestellten üblich. Diese Deregulierung war für die Arbeiter nicht vollkommen unsinnig. Die Stechuhr machte die Arbeit für beide Beschäftigtengruppen immerhin nachvollziehbar. In der Mikrozeit konnten sie aus den Sechs-Minuten-Abschnitten ihren Lohn und die Leistungszulagen berechnen. In der Makrozeit bestimmte die Dauer der Betriebszugehörigkeit, wo sie innerhalb der Fabrik oder des Büros standen. 11
    In einer Vielzahl von Studien begann man in den 1950er Jahren, die persönlichen und sozialen Folgen der Industrialisierung für die Angestellten zu erforschen. Vor allem William Whytes The Organization Man , C. Wright Mills’ Menschen im Büro und Michel Croziers Le phénomène bureaucratique wären hier zu nennen. 12 In Whytes Augen dämpfte die langfristige Anstellung plötzliche Ausbrüche von Ehrgeiz und Innovation. Mills glaubte, die Stabilität führe zu wachsendem Konformismus. Und Crozier, dessen Forschung sich auf Frankreich bezog, wo der Staat eine größere Rolle in der Wirtschaft spielte, betonte eher die politischen Folgen der größeren Fügsamkeit der Angestellten. Keine dieser Studien legte ein besonderes Augenmerk auf die informellen Beziehungen zwischen den Beschäftigten oder zwischen ihnen und der Betriebsleitung. Die formalisierte Zeit schien eine überwältigende, eigenständige Macht zu besitzen.
    Der Zugriff dieser Macht begann sich in den 1970er Jahren zu lockern, und das spürte vor allem die Finanzbranche an der Wall Street. Wenn es ein Ereignis gibt, das diesen Wandel maßgeblich mitangestoßen hat, dann ist es das Scheitern des Währungsabkommens von Bretton Woods während der Ölkrise von 1973 , in dessen Gefolge gewaltige Mengen an Kapital – anfänglich vor allem aus den Ölstaaten des Mittleren Ostens und aus Japan – auf Märkte strömten, die bis dahin eher national beschränkt und vergleichsweise unbeweglich gewesen waren. Dreizehn Jahre später öffnete der »Urknall« der Deregulierung der Finanzmärkte in London einer größeren Zahl von Investoren den Zugang zum Weltmarkt, darunter in beträchtlicher Menge auch Fluchtkapital aus Südamerika und Hongkong. In den 1990er Jahren zogen die Kapitalmärkte Russen an, die ihre halblegal oder illegal erworbenen Gewinne ins Ausland schafften. Und zu Beginn unseres Jahrhunderts wurde China zu einem wichtigen Investor für die europäische Industrie und für amerikanische Staatsanleihen.
    Plötzlich konkurrierte jeder mit jedem. In den Jahrzehnten der Stabilität sorgte ein Gentleman’s Agreement dafür, dass die Wall Street und die Londoner City den Markt für Aktien und Anleihen unter sich aufteilen konnten. Feindliche Übernahmen wie die der größten britischen Aluminiumhütte 1957 durch Siegmund Warburg stießen auf Missbilligung. Geheime betrügerische Absprachen gab es natürlich immer. Warenmärkte und Börsengänge von Unternehmen wurden, schlicht gesagt, oft manipuliert. Wenn Bernard Mandeville heute noch lebte, könnte er eine neue Bienenfabel nur über die Wall Street schreiben. Die heute an solchen Absprachen Beteiligten versuchen, sich auch wechselseitig zu betrügen, konkurrierende Unternehmen zu zerschlagen und vor allem kleinere Wettbewerber ganz aus dem Markt zu verdrängen. Das Gentleman’s Agreement sollte für Stabilität in der Branche sorgen,

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