Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
schrieb einmal, gegenseitiges Vertrauen bedürfe eines Glaubenssprungs, denn es sei »einerseits … weniger, andererseits mehr« als Wissen. 3 Wenn wir beim Umgang mit einem anderen Menschen genau wissen, was geschehen wird, bedarf es keines Vertrauens. Simmels Zeitgenosse, der pragmatistische Philosoph William James, wollte es nicht hinnehmen, dass Vertrauen gänzlich blind sei. In seinem Essay »Der Wille zum Glauben« verglich er Vertrauen mit einer Hypothese, die »mit dem Anspruch, geglaubt zu werden, an uns herantritt«, sich aber auch als falsch erweisen kann, wenn man sie auf die Probe stellt. 4 Dennoch war James wie Simmel der Ansicht, dass Vertrauen eines Glaubenssprungs bedarf. So heißt es in einem anderen Essay, Vertrauen sei die »Bereitwilligkeit, für eine Sache zu handeln, deren glücklicher Ausgang uns nicht im voraus garantiert wird«. 5
Vertrauen gleicht den Instrumenten auf dem Tisch, den Holbeins Bild Die Gesandten zeigt: Man ist bereit, sie zu benutzen, obwohl man nicht genau weiß, wie sie funktionieren. Der Handel mit Derivaten, die auch der Banker nicht ganz versteht, erfordert einen Glaubenssprung. Sein Wille, an diese Finanzinstrumente zu glauben, ist stärker als sein Wissen um die Gefahren. Im Architekturbüro glauben die Menschen an Projekte, die erst noch Wirklichkeit werden müssen, und irgendwo in ihrem Hinterkopf wissen sie, dass sie dafür niemals die nötigen Mittel erhalten werden. Simmels Glaubenssprung hält sie an ihren Zeichenbrettern. Ähnlich ist es beim Vertrauen in andere Menschen. Man glaubt an sie, obwohl man nicht weiß, ob sie dem am Ende auch gerecht werden.
Im Bostoner Fabrikleben nahm Vertrauen diese komplexe Färbung an, wenn die Arbeiter einen Kollegen »schützten«, der sich in Schwierigkeiten befand. Alkoholiker etwa waren sehr geschickt darin, ihren Alkoholismus zu verbergen, aber doch nicht geschickt genug. Ihre Nachlässigkeit am Montageband verriet sie meist dennoch. Wenn andere Arbeiter ihnen auf die Schliche kamen, verringerten sie, falls es ihnen möglich war, die Geschwindigkeit des Montagebandes, oder sie nahmen einfach dem alkoholisierten Kollegen die unvollständige Arbeit aus der Hand. Als überzeugter Reformer – ich war damals ganz der eingebildete junge Harvard-Dozent – vertrat ich die Auffassung, dass man dies nicht tun sollte. Vielmehr müsse man den Alkoholiker zwingen, sich den Folgen seiner Sucht zu stellen. Die Arbeiter an den Montagebändern waren jedoch keine prüden Reformer. Wenn sie sich schützend vor einen Kollegen stellten, nahmen sie ihn so, wie er war. Ein Alkoholiker, der solchen Schutz erfuhr, war zunächst überrascht und sogar misstrauisch. Er konnte nicht glauben, dass jemand das für ihn tat; dahinter mussten irgendwelche versteckten Absichten stecken. Um den Schutz zu akzeptieren, musste er seinerseits einen Glaubenssprung vollziehen und glauben, dass jemand ihm wirklich helfen wollte. Gerade dieses Vertrauensband ermöglichte dem Alkoholiker, weiterhin zu trinken.
Vertrauensbande am Montageband sehen etwas anders aus als die abstrakte Vorstellung davon. Es geht hier eher um eine wechselseitige Transaktion. Werden die Menschen sich gegenseitig helfen und einander damit vertrauen? Vertrauen kann auch auf den Untiefen von Schwäche und Selbstzerstörung aufgebaut werden. Wem das gerade beschriebene Beschützen ungewöhnlich erscheint, sollte bedenken, dass all diese Fließbandarbeiter fromme, wenn auch nicht unbedingt theologisch bewanderte Katholiken waren. Jahr für Jahr, Jahrzehnt um Jahrzehnt hörten sie die christliche Ermahnung, sich nicht von Menschen abzuwenden, die fehlgehen, da auch sie nicht frei von Schwächen seien. Auch auf solch einer Überzeugung lässt sich Vertrauen aufbauen, und dieses Vertrauen ist am Ende vielleicht sogar stärker als eines, das etwa auf einem geringen Risiko basiert.
Kooperation und Störungen
Am Montageband wurde die Kooperation am stärksten auf die Probe gestellt, wenn etwas schieflief, so etwa in einer Großbäckerei, in der ich viel Zeit mit Beobachtung (und Essen) verbrachte, wenn Backöfen zu heiß wurden und die reale Gefahr eines Brandes bestand. In solchen Situationen unterwarfen Vorgesetzte sich plötzlich den Anweisungen von Heizern, die für kurze Zeit die Führung übernahmen. Dann schickte man labile Leute aus dem Raum, und Frauen, die normalerweise draußen mit dem Verpacken der Ware beschäftigt waren, kamen mit Eimern voll Wasser herein. Menschen traten aus
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