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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sennett Richard
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schlitzt er die Haut auf wie mit einem Schwert. Er muss sich überlegen, wie er den Schnitt mit größerer Sensibilität setzen kann. Dazu experimentiert er mit dem Fingerspitzengriff und auch mit verschiedenen Winkeln des Handgelenks. Zur weiteren Verbesserung untersucht er die Hand sehr bewusst.
    Daraus ergibt sich eine dritte Phase. Der neue Griff für Hautschnitte wird habitualisiert, so dass er seinerseits flüssig und sicher ausgeführt werden kann. So zeigt sich ein Rhythmus: Zuerst wird eine Gewohnheit eingeschliffen, dann wird sie in Frage gestellt, und schließlich wird eine verbesserte Gewohnheit erneut eingeschliffen. Ein wichtiger Aspekt der neuen manuellen Fertigkeit des Feldscher-Chirurgen liegt in der Tatsache, dass der neue Griff nicht an die Stelle des alten tritt, sondern zu diesem hinzukommt. Für manche sehr tiefe Schnitte wird der Chirurg auch weiterhin den festeren Griff einsetzen müssen. Es stimmt zwar, dass wir bei der Entwicklung physischer Fertigkeiten oft Bewegungen verbessern, die sich als ineffizient oder als allzu anstrengend erwiesen haben, aber in der Regel möchten wir nicht nur einen einzigen Handgriff besonders gut ausführen können. Wir wünschen uns vielmehr einen ganzen Köcher voller Fertigkeiten, die sich jeweils besonders für die Ausführung bestimmter Aufgaben eignen.
    Der »Köcher« ist ein wichtiges Bild für die Entwicklung von Fertigkeiten. Manche meinen, bei der Entwicklung von Fertigkeiten gehe es darum, den einzig richtigen Weg zur Ausführung einer Aufgabe zu finden. Sie glauben, zwischen Zielen und Mitteln bestünde ein eindeutiges Verhältnis. Zu einer umfassenden Entwicklung gehört es jedoch, dass man lernt, ein und dasselbe Problem auf unterschiedlichen Wegen anzugehen. Erst der volle Köcher der Techniken ermöglicht die Beherrschung komplexer Probleme. Selten gibt es nur einen einzigen richtigen Weg, der allen Zwecken gerecht würde. 1
    Die Entwicklung von Fertigkeiten kann recht lange dauern. Nach einer Schätzung braucht man gut 10 000 Stunden, um Meisterschaft in der Ausübung einer Sportart, in der Beherrschung eines Musikinstruments oder in der Herstellung von Schränken zu erlangen. Bei einer täglichen Übungsdauer von vier Stunden bedeutet das fünf oder sechs Jahre Arbeit. So lange benötigte ein Lehrling in einer mittelalterlichen Zunft, um sein Handwerk zu erlernen (10 000 Stunden sind eine sehr runde Zahl, dürften aber der Realität nahekommen). Zeit allein reicht natürlich nicht aus, um ein guter Fußballspieler oder Musiker zu werden, aber wenn man gewisse angeborene Talente mitbringt, sorgt das anhaltende Üben für Sicherheit in der Ausführung. Manchmal gelingt die Ausführung einer Bewegung schon beim allerersten Mal, doch schon beim nächsten Mal kann dieser glückliche Zufall ausbleiben. Vielleicht verfügt man auch zu Beginn schon über einen ganzen Köcher voller Fertigkeiten, und auch deren Entwicklung braucht Zeit.
    Der Köcher kann manchmal aber auch zu voll sein und zu viele oder zu komplexe Möglichkeiten bieten. In den 1920er Jahren folgte der Komponist Igor Strawinsky dem Gedanken des »Vereinfachens, Weglassens, Klärens«, den ein halbes Jahrhundert später Arvo Pärt in die Worte fasste: »Erneuern durch Vereinfachen.« Albert Einstein hatte Ähnliches im Sinn, als er sagte: »Man sollte alles so einfach machen wie möglich – aber nicht einfacher.« 2 Das Streben nach Einfachheit in der Kunst ist eine komplizierte Angelegenheit. Nichts an Strawinskys Pulcinella ist auf kindliche Weise unschuldig. Die schlichten klassischen Motive, die er darin verwendet, stecken voller Kommentare und Ironie. 3 Der Eindruck des Schlichten und Einfachen ist die größte Illusion, die der Künstler erzeugt.
    In prosaischeren Handwerken verweist der Begriff der »Urform« auf dieses Problem. Der Handwerker beginnt mit der Urform dessen, was es heißt, einen Tumor herauszuschneiden oder einen Schrank zu zimmern. Die Urform stellt einen einfachen Bezugspunkt dar. Dann greift der Chirurg oder Möbelschreiner auf seinen Köcher voller Fertigkeiten zurück, um seiner Arbeit einen spezielleren Charakter zu verleihen: die Art der Nähte, die der Chirurg, oder die Art von Firniss, die der Schreiner verwendet. Dadurch drückt er seiner Arbeit gleichsam einen persönlichen Stempel auf. Im Umgang mit Komplexität erhält seine Beherrschung der handwerklichen Fertigkeiten so einen individuellen Charakter.
    Der Rhythmus der Entwicklung von

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