Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
vergangener Jahrhunderte zu haben scheinen, sind die Organisationsprinzipien der weltlichen Rituale doch weiterhin wirksam.
Indirekte Kooperation
Im sechsten Kapitel haben wir die Angestellten an der Wall Street mit ihrem dringenden Bedürfnis zurückgelassen, ihre berufliche Laufbahn zu reparieren, indem sie in den Jobcentern nach neuer Arbeit suchten. Alltagsdiplomatie begegnet uns etwa im Umgang der dortigen Berater mit ihren Klienten, wenn sie diesem Bedürfnis durch indirekte Kooperation mit ihnen nachzukommen versuchen.
Die Arbeit dieser Berater ist entmutigend. Lange Arbeitslosigkeit bei Arbeitssuchenden mittleren Alters korreliert mit wachsendem Alkoholismus, zunehmender häuslicher Gewalt und einem Anstieg der Scheidungszahlen. Diese Korrelationen beginnen im vierten und fünften Monat der Arbeitslosigkeit und werden danach immer signifikanter. 1 Der durch Langzeitarbeitslosigkeit angerichtete soziale Schaden wird sichtbar bei den Menschen, die schweigend und in sich selbst zurückgezogen in den Jobcentern sitzen, voller Zorn und Scham. Ich denke zum Beispiel an eine Angestellte mit Familie, die ihre Arbeit liebt und in Gefahr steht, eine entmutigte Langzeitarbeitslose zu werden. In ihr brodelt Zorn über die Tatsache, dass sie nach dreizehn Jahren guter Arbeit entlassen wurde. Nach vier Monaten Arbeitslosigkeit und ohne einen Chef, dem sie die Schuld geben könnte, da der selbst nun nicht mehr in der Firma arbeitet, wendet sie ihren Zorn gegen die Berater und gegen sich selbst. Als ich ihr zum ersten Mal begegnete, war sie eine recht lebhafte Person, doch ein halbes Jahr später wirkte sie teilnahmslos.
Wie kann die Beraterin im Jobcenter auf so mutlose Klienten eingehen und ihnen neuen Mut einflößen? Jane Schwartz (wie ich sie hier nennen möchte) ist besonders geschickt im Einsatz indirekter Kooperation. Die grauhaarige Frau mit ihrem schnarrenden, schneidenden Bronx-Akzent beherrscht die Kunst, selbst zu schweigen, wenn ihr ein schweigender Klient gegenübersitzt. In ihren Sessel zurückgelehnt, Kaugummi kauend, lässt sie ihren Blick umherwandern und ist, wie es scheint, durch nichts aus der Ruhe zu bringen, was ein Klient ihr an den Kopf werfen mag. Sie ist nicht mütterlich. Wenn sie spricht, versucht sie die verschlossenen Klienten schrittweise zu bewegen, über die Dummheiten ihrer Arbeitgeber oder über die Tatsache zu lachen, dass hundert andere Arbeitssuchende sich für denselben Job bewerben. Ich fragte Mrs Schwartz einmal, warum das zu helfen schien, und sie antwortete: »Ich habe eine ganze Sammlung von Witzbüchern« – als wäre das eine Antwort. Aber im Rückblick wurde mir klar, dass es tatsächlich eine Antwort war.
»Sie müssen wieder entspannter werden, selbst wenn sie unter starkem Druck stehen«, sagte mir ein anderer Berater. »Arbeitgeber sind beschissen. Wenn sie sehen, dass man verkrampft ist, schalten sie ab.« Die Aufforderung, sich zusammenzureißen, dürfte hier kaum helfen. Ein Scherz ist dagegen ein klassisches Mittel zur Entspannung einer Situation, und im Jobcenter erhalten solche Scherze strategische Bedeutung. Klienten, die seit langem schon arbeitslos sind, befinden sich gewöhnlich in einer verzweifelten wirtschaftlichen Lage, die sie emotional überwältigen kann. Bei Vorstellungsgesprächen müssen sie aber Gelassenheit demonstrieren. Sie müssen, wie jener zweite Berater es ausdrückte, lernen, »mit einem schlechten Blatt zu spielen«.
Scheinbar kleine Rituale sollen den Klienten helfen, bei Vorstellungsgesprächen das Prinzip des minimalen Krafteinsatzes anzuwenden. Man sagt den Klienten, sie sollten Bemerkungen über frühere Leistungen und Erfahrungen nur beiläufig in das Gespräch einflechten, statt sich ihrer offen zu rühmen. Dabei geht es darum, einen Rhythmus aus Fragen und Antworten entstehen zu lassen, der dem Gespräch eine partizipatorische Note verleiht. Im erfolgreichen Bewerbungsgespräch stehe nicht »ich« im Vordergrund, sondern »es«. Der Bewerber müsse in erster Linie Interesse an der angestrebten Stellung zeigen und einschlägiges Wissen demonstrieren. Niemals, so warnt man die Klienten, dürften sie dem potenziellen Arbeitgeber eintrichtern, wie dringend sie den Job brauchen. Beide Seiten wissen wahrscheinlich um die verzweifelte Lage des Bewerbers, doch man muss den Schein wahren und so tun, als führte man ein objektives Gespräch über die Arbeit. Diese Fiktion trägt zum Abbau der sozialen Spannung bei. Um den Eindruck zu
Weitere Kostenlose Bücher