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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sennett Richard
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der Berater ihm Antwort, aber er hält keine Vorträge. Damit möchte er dem Klienten verdeutlichen, dass er ihm zutraut, selbst herausfinden zu können, was für ihn das Beste ist. Dieses Vorgehen vermeidet wie der Scherz die Warnung: »Seien Sie realistisch!« Man präsentiert dem Klienten die Fakten hinsichtlich der Gründung einer eigenen kleinen Firma, als wäre der tatsächlich entschlossen, diesen Weg zu gehen, vertraut aber darauf, dass er am Ende selbst davon Abstand nimmt. Bei dieser Inszenierung nehmen die Berater nur minimalen persönlichen Einfluss und sagen möglichst wenig darüber, wie der Klient sich entscheiden sollte. Stattdessen versuchen sie zu erreichen, dass er sich einer jenseits seiner Wünsche liegenden objektiven Realität zuwendet.
    Die Zurückhaltung des Beraters lädt den Klienten ein, sich das Verhältnis zwischen dem Lösen und dem Finden von Problemen anzuschauen, und steht damit im Gegensatz zu der in sich geschlossenen, isolierten Problemlösung, wie man sie in Unternehmen antrifft, die unter dem Siloeffekt leiden. Die Praxis der indirekten, zwanglosen, nach außen gerichteten Kooperation findet sich auch in der Gemeinwesenarbeit. Wie im ersten Kapitel beschrieben, liegt der Unterschied zwischen Gemeinwesen- und Gewerkschaftsarbeit in ebendieser Zwanglosigkeit. Tatsächlich ist die Hinwendung nach außen statt nach innen unerlässlich für jede schwierige Form sozialer Beziehungen. Das gilt, wie de Certeau und seine Kollegen herausfanden, in besonderem Maße für Menschen, die in entmutigenden materiellen Verhältnissen leben.
    Obwohl viele Berufsberater meiner Generation in ihrer Ausbildung psychotherapeutische Kenntnisse erworben haben, sind sie doch keine Psychotherapeuten. Berater und Beraterinnen wie Jane Schwartz vermeiden es, wie Priester eine Beichte abzunehmen. Es geht nicht darum, Einblick in die Psyche des Klienten zu erhalten, sondern ihn zu bewegen, sich nach außen zu wenden. Wenn eine Klientin zum Beispiel unter häuslicher Gewalt zu leiden hat, können die Berater dieses Problem nicht angehen, denn es fällt nicht in ihren Aufgabenbereich. Auch der Zeitdruck fordert solch ein distanziertes Verhalten. Die meisten Berater haben Hunderte von Klienten zu betreuen. Erfahrene Berater bremsen Neulinge, die allzu viel Mitgefühl entwickeln, sich zu sehr auf Klienten einlassen und zu viel Zeit auf einzelne Fälle verwenden. Wegen des Zeitdrucks können sie sich allenfalls auf die ersten Schritte in der Wiederaufrichtung entmutigter Arbeitssuchender konzentrieren oder Träumer durch eine kurze Inszenierung auf den Boden der Tatsachen zurückholen.
    Ein interessanter Aspekt dieser Art von Beratung – zumindest nach der Auswertung der Rückmeldungen in den Jobcentern der Wall Street zu urteilen – ist die Tatsache, dass erfolgreiche Klienten die Beratung schätzen, ohne sich emotional sonderlich auf die Berater einzulassen. Im Jargon der Psychoanalyse kann man sagen, es bleibt wenig Übertragung erhalten, sobald diese Klienten wieder eine Arbeitsstelle gefunden haben. »Ich höre danach fast nie mehr etwas von ihnen«, meinte Mrs Schwartz, und wie es scheint, ist sie darüber nicht einmal unglücklich. »Ich habe kaum Zeit für meine Freunde. Es ist fürchterlich viel zu tun …« Empathie ist für Berater wichtiger als Sympathie. Sie vermeiden Mitleidsäußerungen gegenüber Klienten, weil sie deren Selbstmitleid nicht fördern möchten.
    Die indirekte Kooperation ist nichts Außergewöhnliches. Man findet sie auf den Straßen von Croix-Rousse ebenso wie bei den Arbeitern meiner Studie in Boston, die in der Lage waren, über ihre mechanische Arbeit eine informelle soziale Struktur aufzubauen. Man könnte aber durchaus fragen, ob diese Praxis bei der Jobsuche wirklich eine sinnvolle Rolle spielt, das heißt, ob die Reparatur funktioniert.

    Der Arbeitsmarkt in Europa wie auch in Nordamerika erlebt zurzeit strukturelle Veränderungen. Es ist ein Gemeinplatz, dass in Europa und Nordamerika seit den 1980er Jahren immer weniger Menschen im Bereich der industriellen Produktion arbeiten. Dieser Rückgang hat inzwischen auch qualifiziertere Tätigkeiten – wie die von Programmierern und Ingenieuren – erfasst, die anderswo in der Welt billiger verrichtet werden. 3 Ich halte es für eine Illusion, dass neue Tätigkeiten im kreativen Bereich oder in grünen Technologien viel an der massiven Abwanderung von Arbeitsplätzen aus der westlichen Welt zu ändern vermöchten. Im

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