Zwanghafte Gier
verrückt.
»Du hast sie nicht mehr alle«, hatte Bo immer gesagt, und Frankie wusste, dass er recht hatte, aber das machte es nicht einfacher.
Es hatte ihr noch nie gefallen, erinnert sie sich nun, nicht einmal als Kind, wenn nur ihre Eltern das machten.
Küssen.
Ihre Münder auf ihren drücken.
Es waren unschuldige Küsse gewesen. Warum ihr das Probleme bereitet hatte, war nicht zu erklären; tatsächlich war es manchmal sogar okay gewesen, wenn ihre Lippen trocken waren und sie nichts gegessen hatten, wonach sie hätten stinken können. Aber oft hatten sie das getan, und das hatte Frankie ganz und gar nicht gefallen.
Wie die meisten Kinder lernte sie schon früh, was ein richtiger Kuss war. Sie sagte zu einem der Mädchen in der Schule, dass allein schon das Geräusch »voll eklig« sei, und das andere Mädchen stimmte ihr zu; aber dabei grinste sie, und Frankie wusste, dass ihr Gegenüber anders dachte als sie.
Offene Münder und Zungen und Zähne.
Allein die Erinnerung lässt sie schaudern.
So war es schon in ihrer Teenagerzeit. Sie weiß noch, wie sie versucht hatte, mit Jungs auszugehen. Einen oder zwei hat sie sogar gemocht, aber wenn die Jungs sie küssen wollten, konnte sie einfach nicht, sie konnte nicht. Und manchmal, wenn sie sich schuldig fühlte, sagte sie den Jungs, dass ihr andere Dinge nicht so viel ausmachten, und damit waren sie von ihrem Mund abgelenkt. Sie zu betatschen war viel spannender, ihre Titten zu drücken und ihr unter den Rock und ins Höschen zu fassen. Das hasste sie zwar auch, aber es war besser als das andere.
Bis Bo gekommen war ... Von da an hatte nur noch eins gezählt: Sie durfte ihn auf keinen Fall verlieren.
Bo arbeitete damals auf einer Baustelle in Chigwell, eine Straße von einer ihrer Kundinnen entfernt. Eines Morgens pfiff er Frankie hinterher, als sie auf dem Weg in die Geschäfte war. Wegen des Drecks hatte sie nie zu der Baustelle geschaut, nun aber hörte sie den Pfiff. So hatte ihr noch nie jemand hinterhergepfiffen, nie , doch außer ihr war da niemand. Sie war die Einzige auf der Straße; also musste der Pfiff ihr gegolten haben, und da musste sie doch nachsehen, oder? Und da war Bo ... Dieser große, dunkeläugige, gut aussehende, schier unglaublich maskuline Mann lächelte sie an. Frankie dachte zunächst, er wolle sie auf den Arm nehmen, sie regelrecht verarschen, doch sein Lächeln war warm.
Und es galt ihr.
Da war sie verloren. Sie hatte sich verliebt, zum ersten Mal im Leben. Und das Erstaunliche, das Wunder war, dass er ihre Liebe offenbar erwiderte.
Bis er herausfand, wie es in ihrem Innern aussah.
Bis er von ihrer Neurose erfuhr.
»Ich glaube dir nicht«, sagte er und lachte, nachdem sie es ihm gestanden hatte.
Noch jetzt erinnert Frankie sich ganz genau daran, was es sie gekostet hatte, es Bo zu erzählen. Sie erinnert sich an sein Gesicht, seinen Unglauben und sein Grinsen.
Dann, als er erkannte, dass sie es ernst meinte, kam der Spott.
Und Schlimmeres.
Viel Schlimmeres.
O Gott, die Dinge, die er ihr angetan hatte.
Die Dinge ...
Frankie hatte geglaubt, er sei für immer aus ihrem Leben verschwunden. Manchmal hatte sie sogar gebetet, dass es so war.
Jetzt erinnert sie sich daran, dass sie geglaubt hatte, ihn an jenem Tag am Churchill Square gesehen zu haben: an dem Tag, an dem Alex Levin sie zu Debenhams hatte gehen sehen. Nun weiß sie, dass er es tatsächlich gewesen war.
Er muss von ihr gewusst, muss sie beobachtet haben. Er muss ...
Er muss von Frankie, der Eleganten gewusst haben, und ...
Die anderen Dinge. Die schlimmen, schlimmen Dinge, die wieder zu ihr zurückkommen, wenn das Feuerwerk in ihrem Kopf losgeht. Dinge, die sie getan hat ... Das weiß Frankie inzwischen, denn sie drängen immer wieder an die Oberfläche, wie Abwasser aus einem dunklen, stinkenden Teich, und wenn sie zwei gesunde Hände hätte, würde Frankie beide benutzen, um die Erinnerungen beiseite zu drängen; doch das kann sie nicht, und sie weiß, dass all diese Erinnerungen weiterhin zurückkehren werden, und sie kann nichts dagegen tun.
Konzentriere dich auf ihn.
Auf Bo, der wieder in ihr Leben zurückgekehrt ist. Hier und jetzt. In diesem Haus.
»Gott, helfe mir«, sagt Frankie in der Dunkelheit in ihrem Kopf.
Dabei weiß sie bereits, dass Gott ihr nicht helfen wird, sollte es ihn geben.
62
»Jetzt ist es allmählich wirklich zu heiß, finden Sie nicht?«, sagte Alex zu Bolin, als sie ihn nach ihrer nächsten Therapiesitzung mit Frankie an
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