Zwanghafte Gier
nicht die Übungen, die der Physiotherapeut ihr empfohlen hat, denn sie vertraut dieser Körperhälfte einfach nicht. Sie kann sich nicht vorstellen, dass ihre rechte Hand, ihr rechter Arm je wieder Kraft besitzen werden. Aber sie kann verdammt noch mal versuchen, ihre linke Seite zu kräftigen. Das ergibt Sinn für sie – wie alles, was dafür sorgt, dass sie sich weniger hilflos fühlt, weniger wie ein Opfer.
Es sind einfache Übungen – Übungen, die sie jederzeit machen kann, vor allem bei diesem Wetter, und die sie sofort beenden kann, sollte Bo plötzlich auftauchen: Fäuste ballen, Hände drehen, imaginäres Bierglasstemmen, um ihre Oberarmmuskeln zu trainieren. Und wenn es auch sonst nichts bringen mag, so verdrängt es doch alle anderen Gedanken, wenn sie dabei zählt: und eins, und zwei, und drei ...
Die schlimmen Erinnerungen.
Die Angst.
64
»Vielleicht hast du doch recht, was Bolin betrifft«, sagte Alex an jenem Abend zu Jude.
Sie lagen im Bett, in ihrem Haus, beide mit den Armen auf dem Laken. Die Decken hatten sie weggetan, da es wieder wärmer geworden war, und durch die geöffneten Fenster drang kaum Luft herein. Dann und wann sang ein Vogel, als wollten selbst die Tiere in dieser Hitze ihre Kräfte sparen.
»Ich bin ganz sicher, dass er kein netter Kerl ist«, sagte Jude. »Aber du glaubst immer noch, dass er sich alles in allem gut um Frankie kümmert, nicht wahr?«
»Ja, das glaube ich.« Alex beugte sich zu ihm hinüber und strich mit der Hand über das kurze, weiche Haar auf seiner Brust. »Obwohl sie mir irgendwie nicht ganz sie selbst zu sein schien.«
»In welcher Hinsicht?«
»Sie wirkte nicht mehr so ruhig wie vorher.«
»Ist das nicht ein Hinweis darauf, dass es ihr wieder besser geht?« Jude nahm ihre Hand und küsste sie. »Hast du nicht gesagt, diese Ruhe sei unnatürlich? Dass sie womöglich bedeute, sie hätte den Kampf aufgegeben?«
»Das ist es ja.« Alex zog ihre Hand zurück und setzte sich ein wenig auf. »Als ich heute gegangen bin, hatte ich einfach nicht das Gefühl , als würde sie kämpfen. Ich hatte eher das Gefühl, als hätte sie Angst.«
»Wovor?« Jude setzte sich ebenfalls auf. »Bolin?«
Alex schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.«
»Vielleicht hat sie nur Angst, dass nie wieder alles normal sein wird«, gab Jude zu bedenken.
»Vielleicht.«
»Oder dass sie einen neuen Schlaganfall erleiden könnte.«
»Davor hat sie ganz bestimmt Angst. Das hätten wohl die meisten Leute.«
»Vielleicht«, sagte Jude, »hat sie auch Angst davor, dass Bolin sie wieder verlässt, sobald es ihr besser geht.«
»Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, sagte Alex. »Das ist durchaus möglich.«
»Eines ist jedenfalls sicher«, sagte Jude und zog sie zu sich herunter. »Heute Nacht kannst du nichts deswegen unternehmen.«
»Ich kann überhaupt nichts deswegen unternehmen.« Alex seufzte und kuschelte sich an ihn. »Es sei denn, Frankie erzählt mir davon.«
65
»Hast du eigentlich vor, es mir jemals zu erzählen?«, fragt Bo plötzlich wie aus dem Nichts am folgenden Samstagmorgen.
Es ist kühler geworden, und Frankie fühlt sich schon besser, hat weniger Angst. Sie fragt sich, ob sie sich vieles nur eingebildet oder zumindest übertrieben hat.
Doch dann, jetzt, vollkommen aus dem Nichts, das.
Sie sind in der Küche, und er macht schon seit einer Weile Toast. Er stapelt eine Scheibe auf die andere, wie krümelige Fliesen. Frankie ist aufgefallen, dass er nun schon seit gut einer Woche immer ruheloser wird, und sie nimmt an, dass er die richtige Arbeit vermisst, körperliche Arbeit, und vielleicht wird er schon bald wieder einen Job annehmen, und sie ist nicht sicher, wie sie darüber denken soll.
Und nun diese Frage.
»Was?«, fragt sie.
»Wie du hierher gekommen bist«, sagt Bo, »und wie du dieses schöne Haus bekommen hast.«
»Das habe ich dir doch schon erzählt«, sagt sie, und ihr Herz schlägt immer schneller.
»Jaja«, sagt Bo. »Mrs Bailey ist nach Kanada gezogen und hat dir das Kommando überlassen.«
Frankie schüttelt den Kopf und deutet mit dem linken Zeigefinger auf ihren Hals. Das tut sie oft, wenn ihr das Sprechen zu schwer fällt.
»Du kannst sprechen«, sagt Bo, »wenn du willst.«
Natürlich hat er recht. Ihr Sprachvermögen hat sich tatsächlich verbessert, nur hat sie manchmal keine Lust, sich die Mühe zu machen. Aber Bo hatte immer schon in ihrem Innern lesen können, erinnert Frankie sich mit bittersüßem
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