Zwanzig Jahre nachher (German Edition)
ihn denn?« fragte der Wirt. »Ich habe ihn einmal gesehen.« entgegnete Grimaud, dessen Stirne sich bei dem Bilde, welches seiner Erinnerung vorschwebte, umdüsterte. Die Wirtin eilte zitternd herbei und sprach zu ihrem Manne: »Hast du gehört?« »Ja,« entgegnete der Wirt und blickte ängstlich nach der Türe hin. In diesem Momente vernahm man einen minder starken Schrei, doch folgte ihm ein langes und anhaltendes Stöhnen. Die drei Personen starrten sich schaudernd an.
»Man muß doch sehen, was das ist,« sagte Grimaud. »Es tönt wie der Schrei eines Mannes, den man ermordet,« murmelte der Wirt. »Jesus!« rief die Frau und bekreuzigte sich. Man weiß, daß Grimaud, wenn er wenig sprach, viel handelte. Er eilte nach der Türe und rüttelte sie kräftig, allein sie war inwendig von einem Riegel versperrt. »Schließt auf,« rief der Wirt, «schließt auf. Herr Mönch, auf der Stelle!« Niemand antwortete. »Sperrt auf, oder ich schlage die Türe ein!« rief Grimaud. Dasselbe Stillschweigen. Grimaud blickte herum und entdeckte ein Hebeeisen, das zufällig in einer Ecke lehnte; er faßte es schnell an und ehe sich noch der Wirt seinem Vorhaben hatte widersetzen können, ward die Türe schon aufgesprengt.
Das Zimmer schwamm im Blut, das durch die Matratzen drang. Der Verwundete sprach nicht mehr, er röchelte; der Mönch war verschwunden. »Wo ist denn der Mönch?« rief der Wirt. Grimaud sprang zu einem offenen Fenster, das in den Hofraum ging, und sagte: »Er wird wohl dahin entflohen sein.« »Glaubt Ihr?« fragte der Wirt voll Schrecken. »Johann, sieh' nach, ob das Maultier des Mönches noch im Stalle ist.« »Es ist kein Maultier mehr da,« entgegnete der Knecht, an den die Frage gestellt war. Grimaud runzelte die Stirne, der Wirt rang die Hände und blickte voll Mißtrauen umher; die Wirtin getraute sich nicht, in das Zimmer zu treten, sondern blieb entsetzt an der Türe stehen. Grimaud trat zu dem Verwundeten und betrachtete diese scharfen und hervorstechenden Züge, die in ihm eine schauerliche Erinnerung erweckten. Nach einem Weilchen düstern und stummen Schauens sprach er endlich: »Da bleibt kein Zweifel mehr, er ist es wirklich. »Lebt er noch?« fragt der Wirt. Grimaud antwortete nicht, sondern riß ihm das Wams auf, um ihm das Herz zu fühlen, während sich der Wirt gleichfalls näherte; doch plötzlich wichen beide zurück, der Wirt, indem er einen Schrei des Entsetzens ausstieß, und Grimaud, indem er erblaßte. Die Klinge eines Dolches war bis an den Griff in die linke Brust des Scharfrichters gebohrt. »Holt Hilfe herbei,« rief Grimaud, »ich will bei ihm bleiben. Der Wirt ging ganz betäubt hinaus; die Frau aber war bei dem Schrei entflohen, den ihr Mann ausgestoßen hatte.
Die Lossprechung
Man vernehme, was da geschah.
Wir haben gesehen, daß der vorgebliche Mönch ganz und gar nicht aus freiem Antriebe, sondern wider seinen Willen den Verwundeten begleitete, der ihm auf so seltsame Art empfohlen worden war. Der Scharfrichter prüfte mit jenem schnellen Blicke, der den Sterbenden eigen ist, welche keine Zeit mehr zu verlieren haben, das Gesicht desjenigen, der sein Tröster werden sollte, und mit einer Bewegung des Erstaunens sagte er: »Ihr seid noch recht jung, ehrwürdiger Vater.« »Diejenigen, welche mein Kleid tragen, haben kein Alter,« gab Francis zur Antwort. »O, redet doch sanfter mit mir,« sprach der Verwundete, »ich brauche in meinen letzten Augenblicken einen Freund.« ..Ihr seid sehr leidend?« versetzte der Mönch. »Ja, doch weit mehr in der Seele als am Leibe.« »Wir werden Eure Seele erretten,« sprach der junge Mann, »doch seid Ihr wirklich der Scharfrichter von Bethune, wie diese Leute sagen?« Der Verwundete, welcher zweifelsohne fürchtete, der Name Scharfrichter möchte ihm den letzten Beistand rauben, den er in Anspruch nahm, entgegnete rasch: »Das heißt, ich bin es gewesen, doch bin ich es jetzt nicht mehr; seit fünfzehn Jahren habe ich mein Amt abgetreten. Wohl bin ich noch bei den Exekutionen anwesend, doch vollstreckte ich sie nicht mehr selbst.« »Ihr habt sonach einen Abscheu vor Eurem Stande?« Der Scharfrichter stieß einen tiefen Seufzer aus, dann sagte er: »So lang ich nur im Namen des Gesetzes und der Gerechtigkeit gerichtet habe, ließ mich mein Stand unter dem Schirme des Gesetzes und der Gerechtigkeit in Ruhe schlafen; allein seit jener entsetzlichen Nacht, wo ich mich zum Werkzeuge einer persönlichen Rache hingab, und das Richtschwert
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