Zwei an Einem Tag
zuhörte, nahm an, dass sie etwas zitierte, war aber abgelenkt von dem dunklen Schweißfleck, der sich zwischen ihren Schulterblättern bildete, und dem BH-Träger, der sichtbar wurde, als der Halsausschnitt des T-Shirts verrutschte. Wieder sah er ein flüchtiges Bild der letzten Nacht vor sich, aber sie drehte sich zu ihm um, als verbitte sie sich solche Gedanken.
»Wie läufts da unten, Sherpa Tenzing?«
»Bestens. Ich wünschte nur, die Schuhe hätten mehr Profil.« Sie lachte. »Was ist so witzig?«
»Ich habe noch nie jemanden mit Zigarette wandern sehen.«
»Was soll ich denn sonst tun?«
»Die Aussicht bewundern!«
»Eine Aussicht ist eine Aussicht ist eine Aussicht.«
»Ist das Shelley oder Wordsworth?«
Seufzend blieb er stehen und stützte die Hände auf die Knie. »Okay. Gut. Ich bewundere die Aussicht.« Er drehte sich um, sah die Wohnsiedlungen, die Türme und Zinnen der Altstadt unter dem großen, grauen, massigen Schloss und dahinter, im Dunst des warmen Tages, den Firth of Forth. Dexters Philosophie war, grundsätzlich nicht zu zeigen, wenn ihn etwas beeindruckte, aber es war wirklich eine grandiose Aussicht, die er von Postkarten her kannte. Eigentlich unerklärlich, warum er sie noch nie gesehen hatte.
Ein »Sehr hübsch« erlaubte er sich, und sie stiegen weiter Richtung Gipfel und fragten sich, was passieren würde, wenn sie dort ankamen.
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
Der zweite Jahrestag
Auspacken
Samstag, 15. Juli 2006
Nord-London und Edinburgh
An diesem Abend zieht er um Viertel nach sechs das Metallgitter vor dem Belleville Café herunter und verschließt es mit dem schweren Vorhängeschloss. Maddy steht in der Nähe und wartet auf ihn, er nimmt ihre Hand, und sie gehen gemeinsam zur U-Bahn.
Endlich, endlich ist er umgezogen, hat sich kürzlich eine hübsche, aber unauffällige Maisonettewohnung mit drei Schlafzimmern in Gospel Oak zugelegt. Maddy wohnt etwas entfernt in Stockwell am anderen Ende der Northern Line, und manchmal übernachtet sie bei ihm. Aber nicht heute Abend; es ist nichts Großartiges oder Melodramatisches, aber heute Abend braucht er etwas Zeit für sich. Er hat sich für heute Abend etwas vorgenommen, das er nur allein tun kann.
Sie verabschieden sich vor der U-Bahn-Station Tufnell Park. Maddy hat langes, glattes, schwarzes Haar und ist etwas größer als er, deshalb muss sie sich leicht hinunterbeugen, um ihm einen Abschiedskuss zu geben. »Ruf mich nachher an, wenn du willst.«
»Mache ich vielleicht.«
»Und wenn du deine Meinung änderst und ich rüberkommen soll …«
»Es wird schon gehen.«
»Na gut. Dann eventuell bis morgen?«
»Ich ruf dich an.«
Wieder küssen sie sich, kurz, aber zärtlich, und er geht weiter den Hügel hinunter zu seinem neuen Heim.
Er ist jetzt seit zwei Monaten mit Maddy zusammen. Sie müssen es den anderen Mitarbeitern noch offiziell mitteilen, aber vermutlich wissen es sowieso schon alle. Es ist keine leidenschaftliche Affäre, mehr ein allmähliches Akzeptieren der unvermeidlichen Gegebenheiten im Laufe des letzten Jahres. Für Dexters Geschmack ist alles etwas zu praktisch und nüchtern, und insgeheim fühlt er sich unwohl dabei, dass Maddy sich von der Vertrauten zur Geliebten gewandelt hat: Es wirft einen Schatten auf die Beziehung, dass sie in einer so dunklen Zeit entstanden ist.
Aber sie kommen sehr gut miteinander aus, alle sagen das, und Maddy ist freundlich, vernünftig, attraktiv, groß und schlank und ein bisschen ungeschickt. Sie hat künstlerische Ambitionen, und Dexter findet, sie hat Talent; kleine Bilder von ihr hängen im Café und werden hin und wieder sogar verkauft. Sie ist zehn Jahre jünger als er – im Geiste sieht er Emma die Augen verdrehen –, aber sie ist weise, klug und hat selbst schon einiges durchgemacht: eine frühe Scheidung und diverse unglückliche Beziehungen. Sie ist ruhig, unabhängig, nachdenklich und hat eine melancholische Ausstrahlung, was ihm gegenwärtig sehr entgegenkommt. Außerdem ist sie sehr mitfühlend und extrem loyal: In der Zeit, als er den Profit vertrank und nicht auftauchte, hat sie das Geschäft gerettet, und dafür ist er ihr dankbar. Jasmine mag sie. Sie kommen gut klar, bisher zumindest.
Es ist ein schöner Samstagabend, und allein schlendert er durch Wohngebiete in Seitenstraßen zu seiner Wohnung im Keller und Erdgeschoss eines roten Ziegelbaus unweit von Hampstead Heath. Die Wohnung hat den Geruch und die Tapeten der Vorbesitzer, einem älteren Ehepaar,
Weitere Kostenlose Bücher