Zwei an Einem Tag
schon den Rücken zugedreht, und er verlässt das Zimmer und zieht die Tür locker hinter sich zu. Eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft, wahrscheinlich noch in diesem Jahr, wird er wohl das Zimmer verlassen und sie nie wieder sehen – dieser Gedanke ist so unvorstellbar, dass er ihn gewaltsam verdrängt und sich stattdessen auf sich selbst konzentriert: den Kater, die Müdigkeit, den pulsierenden Schmerz in den Schläfen beim Treppensteigen.
Die geräumige, unordentliche Küche ist leer, deshalb geht er zum Kühlschrank, der auch fast leer ist. Ein welkes Stück Sellerie, die Überreste eines Hühnchens, offene Dosen und billiger Schinken deuten darauf hin, dass sein Vater die Haushaltsführung übernommen hat. In der Kühlschranktür steht eine offene Flasche Weißwein. Dexter nimmt sie und trinkt vier, fünf kräftige Schlucke der lieblichen Flüssigkeit, bevor er die Schritte seines Vaters im Flur hört. Er stellt die Flasche zurück und wischt sich mit dem Handrücken den Mund ab, als sein Vater mit zwei Tüten vom Dorfsupermarkt zur Tür hereinkommt.
»Wo ist deine Mutter?«
»Müde. Ich hab sie für ein Nickerchen nach oben getragen.« Dexter will, dass er weiß, wie tapfer und reif er ist, aber sein Vater wirkt unbeeindruckt.
»Verstehe. Habt ihr euch unterhalten?«
»Ein bisschen. Über dies und das.« Seine Stimme kommt ihm seltsam dröhnend, lallend und unsicher vor. Betrunken. Merkt sein Vater was, fragt er sich? »Wir reden nachher weiter, wenn sie aufwacht.« Er macht den Kühlschrank wieder auf und tut, als sehe er die Weinflasche zum ersten Mal. »Darf ich?« Er nimmt sie, gießt den Rest in ein Glas und geht an seinem Vater vorbei. »Ich gehe ein Weilchen auf mein Zimmer.«
»Wozu?«, fragt sein Vater stirnrunzelnd.
»Ich suche was. Alte Bücher.«
»Willst du kein Mittagessen? Einen Happen zum Wein vielleicht?«
Dexter wirft einen Blick auf die Einkaufstüte zu Füßen seines Vaters, die vom Gewicht all der Dosen gerissen ist. »Später vielleicht«, sagt er im Hinausgehen.
Auf dem Treppenabsatz bemerkt er, dass die Tür zum Zimmer seiner Eltern aufgegangen ist, und geht leise noch einmal hinein. Die Vorhänge wehen in der nachmittäglichen Brise, und Sonnenstrahlen huschen über die schlafende Gestalt unter der alten Decke, unter der die schmutzigen Fußsohlen und fest eingezogenen Zehen hervorlugen. Der Duft von teuren Lotionen und geheimnisvollen Pudern, den er aus seiner Kindheit kennt, ist einem Geruch nach Verfall gewichen, über den er lieber nicht nachdenken möchte. Krankenhausatmosphäre hat sich im Haus seiner Kindheit breitgemacht. Er macht die Tür zu und tappt ins Bad.
Beim Pinkeln durchsucht er das Medizinschränkchen: Die umfangreiche Schlafmittelsammlung seines Vaters zeugt von nächtlichen Angstattacken, außerdem gibt es ein altes Döschen Valium von seiner Mutter mit dem Verfallsdatum März 1989, das längst von stärkeren Medikamenten abgelöst worden ist. Er nimmt sich zwei von jeder Sorte, lässt sie in seiner Brieftasche verschwinden, dann noch eine dritte Valium, die er mit Leitungswasser herunterspült, um die Nerven zu beruhigen.
Sein altes Zimmer dient jetzt als Abstellraum, und er muss sich an einer alten Chesterfieldcouch, einer Holzbox und Pappkartons vorbeiquetschen. An den Wänden hängen ein paar eselsohrige Familienschnappschüsse und Schwarzweißfotos von Muscheln und Blättern, die er als Teenager gemacht hat und die allmählich verblassen und sich von der Wand lösen. Wie ein Kind, das man auf sein Zimmer geschickt hat, legt er sich auf das alte Doppelbett und verschränkt die Hände unter dem Kopf. Dexter hatte sich immer vorgestellt, mit 45 oder 50 bekäme man eine Art geistig-emotionale Ausrüstung, die einem hilft, mit dem drohenden Verlust eines Elternteils fertig zu werden. Wenn er diese Ausrüstung nur schon hätte, wäre alles gut. Dann könnte er edel, selbstlos, weise und gelassen sein. Vielleicht hätte er selbst Kinder und die mit der Vaterschaft einhergehende Reife und das Wissen um den Kreislauf des Lebens.
Aber er ist noch nicht 45, er ist erst 28. Seine Mutter 49. Etwas ist schrecklich schiefgelaufen, das Timing stimmt nicht, wie kann man ernsthaft von ihm erwarten, mit dem Anblick seiner einst bildschönen Mutter fertig zu werden, die immer mehr verfällt? Es ist einfach nicht fair, wo doch so viele andere Dinge seine Aufmerksamkeit erfordern. Dexter ist ein vielbeschäftigter junger Mann am Beginn einer erfolgreichen Karriere.
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