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Zwei an Einem Tag

Zwei an Einem Tag

Titel: Zwei an Einem Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Nicholls
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Krass ausgedrückt, er hat Besseres zu tun. Wieder ist ihm plötzlich zum Heulen zumute, weil er aber schon seit fünfzehn Jahren nicht mehr geweint hat, schiebt er es auf die Chemie und beschließt, ein Nickerchen zu machen. Er platziert das Weinglas vorsichtig auf einem Umzugskarton neben dem Bett und dreht sich auf die Seite. Ein anständiger Mensch zu sein, erfordert Einsatz und Energie. Nur ein kleines Päuschen, dann wird er sich entschuldigen und ihr zeigen, wie sehr er sie liebt.
    Mit einem Ruck wacht Dexter auf, wirft erst einen, dann einen zweiten Blick auf die Armbanduhr. 18:26 Uhr. Er kann unmöglich sechs Stunden geschlafen haben! Aber als er die Vorhänge aufzieht, sieht er die Sonne langsam hinter dem Horizont versinken. Der Kopf tut ihm weh, die Augen sind wie zugeklebt, er hat einen metallischen Geschmack im Mund, ist wie ausgetrocknet und hungriger als je zuvor. Er nimmt das Glas Wein, das sich warm anfühlt, trinkt es halb aus und zuckt zusammen: eine fette Schmeißfliege hat sich ins Glas verirrt, er spürt das Summen an der Lippe. Dexter lässt das Glas fallen, der Wein ergießt sich über sein Hemd und auf das Bett. Taumelnd springt er auf.
    Im Badezimmer spritzt er sich Wasser ins Gesicht. Der Schweiß auf dem Hemd hat eine säuerliche Note, einen unverkennbar alkoholischen Gestank angenommen. Leicht angeekelt benutzt er den alten Deostift seines Vaters. Von unten hört er das Scheppern von Töpfen und Pfannen und Radiogeplapper, typische Familiengeräusche. Fröhlich; sei fröhlich, glücklich, höflich, und mach dich vom Acker.
    Als er am Schlafzimmer seiner Mutter vorbeikommt, sieht er sie seitlich auf der Bettkante sitzen und über die Felder schauen, als hätte sie auf ihn gewartet. Langsam dreht sie den Kopf, aber er lungert an der Tür herum wie ein Kind.
    »Du hast den ganzen Tag verschlafen«, sagt sie ruhig.
    »Hab verpennt.«
    »Das sehe ich. Fühlst du dich besser?«
    »Nein.«
    »Nun ja. Dein Vater ist ein bisschen sauer auf dich, fürchte ich.«
    »Das ist nichts Neues.« Sie lächelt nachsichtig, und ermutigt fügt er hinzu: »Im Moment scheint jeder auf mich sauer zu sein.«
    »Armer, kleiner Dexter«, sagt sie, und er fragt sich, ob sie es sarkastisch meint. »Komm und setz dich.« Lächelnd legt sie die Hand neben sich auf das Bett. »Neben mich.« Gehorsam geht er ins Zimmer und setzt sich, so dass ihre Hüften sich berühren. Sie schmiegt den Kopf an seine Schulter. »Wir sind nicht wir selbst, stimmts? Ich zumindest nicht. Aber du auch nicht. Du bist nicht mehr du selbst. Jedenfalls nicht, wie ich dich in Erinnerung habe.«
    »Wie meinst du das?«
    »Ich meine … kann ich ganz offen sein?«
    »Muss das sein?«
    »Ich glaube schon. Das ist mein Privileg.«
    »Dann schieß los.«
    »Ich finde …« Sie hebt den Kopf. »Ich finde, du hast das Zeug, ein wunderbarer junger Mann zu werden. Außergewöhnlich sogar. Der Meinung war ich schon immer. Dafür sind Mütter ja da, oder? Ich glaube aber, es liegt noch ein gutes Stück Weg vor dir bis zum Ziel. Das ist alles.«
    »Verstehe.«
    »Nimms mir nicht übel, aber manchmal …« Sie nimmt seine Hand und streicht ihm mit dem Daumen über die Handfläche. »Manchmal fürchte ich, du bist kein sehr netter Mensch mehr.«
    Sie schweigen, bis er schließlich meint: »Was soll ich dazu sagen?«
    »Du brauchst nichts zu sagen.«
    »Bist du wütend auf mich?«
    »Ein bisschen. Aber im Moment bin ich auf so ziemlich alle wütend. Alle, die nicht krank sind.«
    »Es tut mir so leid, Mum. So schrecklich leid.«
    Sie presst den Daumen auf seine Handfläche. »Ich weiß.«
    »Ich bleibe hier. Heute Nacht.«
    »Nein, nicht heute Nacht. Du hast keine Zeit. Komm wieder und fang neu an.«
    Er steht auf, fasst sie leicht an den Schultern und schmiegt die Wange an ihre – ihr warmer, süßer Atem streift sein Ohr – und geht zur Tür.
    »Sag Emma danke«, sagt sie, »für die Bücher.«
    »Mach ich.«
    »Grüß sie ganz lieb. Wenn du sie heute Abend siehst.«
    »Heute Abend?«
    »Ja. Du triffst sie doch heute.«
    Die Lüge fällt ihm wieder ein. »Ja, ja, mach ich. Und tut mir wirklich leid, wenn ich heute nicht besonders … nett war.«
    »Hm. Bleibt immer noch das nächste Mal, schätze ich«, sagt sie lächelnd.
    Dexter rennt die Treppe hinunter, hofft, dass die Geschwindigkeit ihn vor dem Auseinanderfallen bewahrt, aber unten im Flur sitzt sein Vater und liest die Lokalzeitung – oder tut zumindest so. Wieder einmal scheint er ihm aufgelauert

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