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Zwei bemerkenswerte Frauen

Zwei bemerkenswerte Frauen

Titel: Zwei bemerkenswerte Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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hellem Tageslicht ließ sich das Loch, das Billy und Davy in den Fels geschlagen hatten, leichter auskundschaften. Wegen des Winkels, in dem der Schädel gelegen hatte, vermutete ich, dass der Körper, je nachdem, wie lang er war, tief in die Wand hineinreichte. Da der Kopf schon einen guten Meter lang war, konnte der Körper leicht über fünf Meter messen. Ich kroch halb in das Loch hinein und tastete die Stelle ab, an der sich meiner Erinnerung nach die Wirbel am Schädelende befunden hatten. Ich spürte eine lange, bucklige Steinreihe und begann zu kratzen, um den Dreck und Lehm wegzubekommen.
    Plötzlich tauchte hinter mir der wutschäumende Captain Kurio auf. «Du also! Dachte ich’s mir doch, dass ich dich freche kleine Schlampe hier finde.»
    Vor Schreck schrie ich laut auf und schoss aus dem Loch heraus. Ich drückte mich flach gegen die Felswand, solche Angst hatte ich, hier draußen mit ihm allein zu sein. «Lassen Sie mich in Ruhe, es ist mein Krokodil!», rief ich.
    Captain Kurio packte meinen Arm und verdrehte ihn hinter meinem Rücken. Für einen alten Mann war er ziemlich stark. «Wolltest mich wohl umbringen, Mädchen? Dir werde ich eine Lektion erteilen.» Er griff nach dem Spaten hinter sich.
    Wie seine Lektion ausgesehen hätte, habe ich nie erfahren, denn in dem Moment kam mir die Klippe zu Hilfe. Auch wenn sie sich in den folgenden Jahren noch oft genug als Feindin erweisen sollte – an diesem Tag schickte sie ganz in unserer Nähe einen ablenkenden Steinhagel hinab. Einige Steine in der Gerölllawine waren so groß wie die Exemplare, die ich vor kurzem über die Kante gerollt hatte. Captain Kurio, der mir gerade noch etwas antun wollte, verwandelte sich plötzlich in meinen Retter und riss mich von der Klippenwand weg. Schon im nächsten Moment schlug ein Stein genau an der Stelle ein, wo ich gestanden hatte. «Schnell!», rief er, und wir stolperten, uns aneinander festhaltend, davon, bis wir in sicherer Entfernung an der Wasserkante waren. Von dort blickten wir zurück und sahen, dass der komplette Klippenvorsprung, auf dem ich vor wenigen Minuten noch gelegen hatte, abgebrochen war. Der gerade noch feste Boden hatte sich zu einem in die Tiefe schießenden Geröllfluss verwandelt, dessen Tosen mich an den Donner erinnerte, den ich als Baby gehört hatte. Doch diesmal hielt der Lärm länger an, und mich durchschoss kein gleißend sirrender Blitz, sondern Dunkelheit. Es dauerte mindestens eine Minute, bis keine Steine und kein Schotter mehr aus der Klippenwand regneten. Captain Kurio und ich standen wie gelähmt da, sahen zu und warteten.
    Als die Klippe sich endlich nicht mehr bewegte und Ruhe einkehrte, begann ich zu weinen. Beinahe wäre ich gestorben, doch das allein war es nicht: Das Loch, hinter dem sich der Körper des Krokodils befand, war jetzt vollständig von dem Erdrutsch verschüttet. Wir würden Jahre brauchen, wenn wir es ausgraben wollten. Captain Kurio zog eine kleine Feldflasche aus Zinn aus der Tasche, schraubte sie auf und gönnte sich einen Schluck. Dann reichte er sie an mich weiter. Ich wischte mir Augen und Nase mit meinem Ärmel ab und trank. Noch nie zuvor hatte ich starken Alkohol getrunken. Er brannte mir eine Spur durch den Hals und ließ mich husten, doch ich hörte auf zu weinen.
    «Danke, Captain Kurio», sagte ich und reichte ihm die Flasche zurück.
    «Anscheinend hat das Gehämmere gestern die Klippe instabil gemacht und zu einem Abbruch geführt. Es ist vorher schon ein bisschen herabgekommen, aber ich dachte …» Captain Kurio beendete den Satz nicht. «Wenn du da irgendwas rauskriegen willst, hast du verdammt viel Arbeit vor dir.» Er nickte in Richtung des Erdrutsches. «Mein Spaten steckt auch da drin. Sieht so aus, als müsste ich mir einen neuen besorgen.»
    Es war fast schon lustig, wie schnell ihn die Aussicht auf schwere Arbeit von einem Vorhaben abbringen konnte. Jetzt war es wieder mein Krokodil, auch wenn es unter einem Geröllhaufen begraben lag.

IV
    Was für eine Abscheulichkeit
    M ir sind in meinem Leben viele Menschen begegnet, für die ich nichts als Verachtung empfinden konnte, aber niemals hat mich jemand so sehr erzürnt wie Henry Hoste Henley.
    Einen Tag, nachdem die Days den Schädel ausgegraben hatten, kam Lord Henley zu Besuch. Er machte sich nicht die Mühe, den Stiefelabstreifer zu benutzen, sondern zog eine lange Dreckspur durch den Salon. Als Bessy seinen Besuch ankündigte, war Louise gerade ausgegangen, Margaret nähte, und

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