Zwei bemerkenswerte Frauen
herabstürzen ließ. Nichts geschah, nur der Ober kam, um unsere Tassen nachzufüllen.
«Wie ist das möglich?»
«Hast du schon einmal von der Katastrophentheorie gehört?»
«Du hast es einmal erwähnt, als du Cuvier gelesen hast, aber Margaret wollte es nicht hören, weil sie es so verstörend fand.»
Ich nickte. «Cuvier behauptet, manche Tierarten seien ausgestorben, weil sie in ihrer Umwelt nicht länger überleben konnten. Für die Menschen ist diese Vorstellung so verstörend, weil sie sich fragen, wo Gott dabei bleibt. Warum sollte Er Lebewesen schaffen, und sich dann untätig zurücklehnen und sie einfach aussterben lassen? Und dann gibt es Leute wie Lord Henley, die glauben, das Tier in dem Fossil sei ein Vorgänger des Krokodils, eine Art, die Gott erst gemacht und dann wieder verworfen habe. Manche glauben auch, Gott habe die Sintflut geschickt, um die Welt von Tieren zu befreien, die Er nicht mehr wollte. Aber alle diese Theorien gehen davon aus, dass Gott Fehler macht und sie korrigieren muss. Verstehst du? Diese Theorien müssen zwangsläufig anstößig sein. Viele Menschen, wie auch unser Reverend Jones, ziehen es vor, die Bibel wörtlich zu nehmen, in der es heißt, Gott habe die Welt und ihre Geschöpfe in sechs Tagen erschaffen. Sie sind davon überzeugt, dass unsere Welt heute noch genauso aussieht wie die Welt damals und alle Lebewesen noch irgendwo existieren. Die Berechnungen von Bischof Ussher, der das Alter der Welt mit sechstausend Jahren angibt, empfinden sie als beruhigend und nicht etwa als einschränkend oder ein wenig absurd.» Während ich an mein Gespräch mit Reverend Jones dachte, nahm ich mir eine Katzenzunge von dem Gebäckteller, der zwischen uns auf dem Tisch stand, und zerbrach sie in zwei Teile.
«Und was sagt er dann zu Marys Tier?»
«Er glaubt, dass solche Tiere vor der Küste Südamerikas herumschwimmen und wir sie nur noch nicht entdeckt haben.»
«Könnte das sein?»
Ich schüttelte den Kopf. «Sie wären längst von Seefahrern gesichtet worden. Seit Hunderten von Jahren umsegeln wir die Welt, und doch hat noch nie jemand ein solches Tier gesehen.»
«Und deshalb glaubst du, dass wir vorhin in Bullocks Museum das Fossil eines Tieres gesehen haben, das es nicht mehr gibt. Weil es ausgestorben ist, ob Gott es nun gewollt hat oder nicht.» Louise sprach langsam, als wolle sie diesen Sachverhalt für uns beide ganz klar formulieren.
«Ja.»
Louise kicherte und nahm sich ebenfalls ein Gebäckstück. «Das dürfte einige Mitglieder der Kirchengemeinde Sankt Michael tatsächlich überraschen. Reverend Jones wird dich noch bitten, auszutreten und zu den Dissentern zu gehen!»
Ich aß meine Katzenzunge. «Ich weiß nicht, ob die so anders sind. Sie mögen sich zwar von der Lehre der Kirche von England distanzieren, aber die Dissenter, die ich in Lyme kennen gelernt habe, interpretieren die Bibel genauso wörtlich wie Reverend Jones. Die Katastrophentheorie würden sie niemals akzeptieren.» Ich seufzte. «Eigentlich gehört Marys Tier in wissenschaftliche Hände, in die eines Anatomen wie Cuvier in Paris oder eines Geologen aus Oxford oder Cambridge. Sie könnten uns vielleicht überzeugende Antworten geben. Doch das wird nie geschehen, solange das Fossil als exotisches Dorset-Krok verkleidet in Bullocks Museum liegt!»
«Aber wenn es irgendwo auf Colway Manor versteckt läge, wäre es noch schlimmer», entgegnete Louise. «Wenigstens können es hier mehr Leute sehen. Und wenn die richtigen Leute es zu Gesicht bekommen – deine fachkundigen Herren Geologen – werden sie seine Bedeutung erkennen und es vielleicht genauer untersuchen.»
Der Gedanke war mir noch gar nicht gekommen. Louise war schon immer die Vernünftigere von uns beiden gewesen. Es tat so gut, mit ihr zu reden, und ich fühlte mich danach ein wenig erleichtert, allerdings nicht genug, um meine Wut auf Lord Henley zu vergessen.
Als wir im nächsten Monat nach Lyme zurückkehrten, machte ich mich noch vor meinem ersten Besuch bei Mary Anning auf den Weg zu Lord Henley, um ihn zur Rede zu stellen. Ich kündigte meinen Besuch nicht an und erzählte auch meinen Schwestern nicht, wo ich hinging, sondern lief einfach über die Felder zwischen dem Morley Cottage und Colway Manor, ohne ein Auge für die Wildblumen und blühenden Hecken zu haben, die ich in London so sehr vermisst hatte. Lord Henley war nicht daheim, doch man schickte mich an eine der Grenzen seines Anwesens, wo er die Aushubarbeiten an
Weitere Kostenlose Bücher