Zwei Esel Auf Sardinien
runter, und ich hebe ihn auf. Lese ihn noch einmal. Viele Sätze und Satzteile sind durchgestrichen, vielleicht alles Versuche, die richtigen Worte in einem annehmbaren Italienisch zu finden. Claudio muss vorher schon einige Entwürfe verfasst haben. Es sind nur ein paar Zeilen, aber sie treffen mich genau ins Herz und wecken in mir ein Gefühl ungeheuren Respekts und grenzenloser Dankbarkeit diesem Mann gegenüber. Hin- und hergerissen zwischen Rührung und Bestürzung wird mir auf einmal klar, dass da überhaupt nichts schiefgegangen ist; auf dieser Reise habe ich höchstens noch etwas gelernt. Ich stehe mutterseelenallein mitten in einem verlassenen Tal, und doch fühle ich mich nicht einsam.
Eine Eidechse huscht gerade aus einem Busch, Dutzende weiße Wölkchen jagen sich am Himmel, zwei Ziegen sehen mich mit lebhaften Augen an, und Jutta kommt in diesem Moment zurück. Wie könnte ich mich da einsam fühlen? Vor zwei Tagen stand ich in Rom im Stau zwischen Autos eingeklemmt, dort war ich wirklich einsam.
Vor uns liegt ein kleiner Hügel, auf dessen Gipfel ich die Überreste eines blendend weißen Nuraghe entdecke. Er wurde ganz aus Kalkstein errichtet. Obwohl ich schon eine ungefähre Vorstellung habe, was uns erwartet, gefällt mir der Gedanke, dass ich nicht weiß, welchem Schicksal wir entgegengehen und was wir am Ende dieser Reise mitnehmen.
Ich wende mich an Jutta, sie sieht mich mit vor Müdigkeit glänzenden Augen an.
» Tesoro , erinnerst du dich noch daran, dass du mir gesagt hast, wie sehr du Luxusherbergen hasst und wie gern du einmal eine romantische Nacht unter freiem Himmel verbringen möchtest?«
»Wann soll das gewesen sein?«
»Und hatte ich dir nicht versprochen, dass wir in Sardinien die Sterne betrachten würden?«
»Worauf willst du hinaus?«
»Auf gar nichts, denn wir sind schon da. Dieser Nuraghe hat nur auf uns gewartet …«
Die kleine Steinhöhle ist leer, aber deshalb wirkt sie nicht verlassen auf mich, nein, sie vermittelt mir ein Gefühl angenehmer Einsamkeit. Der erste Stern am Abendhimmel zwinkert uns zu. Das muss die Venus sein, die nun ihren grandiosen Auftritt hat. Jutta lehnt sich zu mir herüber, wir sind beide völlig erschöpft.
Non poto reposare, amore e coru
pensende a tie soe donzi momentu.
Non istes in tristura prenda e oru
né in dispiacere o pessamentu.
T’assicuro ch’a tie solu bramo.
Ca t’amo forte t’amo, t’amo, t’amo.
Amore meu prenda da estimare,
s’affettu meu a tie solu est dau.
S’are iuttu sas alas a bolare,
milli bortas a s’ora ippo bolau,
pro benner nessi pro ti saludare …
Ich finde keine Ruhe, liebes Herz,
und denke jeden Augenblick an dich.
Sei doch nicht traurig, meine Liebste,
und nicht enttäuscht oder sorgenvoll.
Ich schwöre dir, dass ich nur dich liebe.
Denn ich liebe dich innig, ich liebe, liebe, liebe dich.
Meine einzige Liebe, werteste Freude, die ich so achte,
all meine Gefühle sind nur für dich bestimmt.
Besäße ich Flügel und könnte ich fliegen,
schon tausendmal wär ich zu dir geflogen,
wär gekommen, um dich zumindest zu grüßen,
oder auch nur, um dich zu sehen …
Dieses 1926 entstandene Stück stammt von Salvatore Sini, einem Dichter und Anwalt, der in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gelebt hat, und es ist vielleicht das bekannteste sardische Liebeslied.
Sternengeflüster
Jutta
Unser Nuraghe steht mitten in einem großen Olivenhain, dessen Bäume voller reifer Früchte hängen. Zu meinem Entsetzen hat er allerdings kein Dach mehr. Nur ein ganz kleiner Rest wölbt sich kuppelartig über einen Teil des Gemäuers, das sicher aus einem anderen Jahrhundert stammt. Eine Menge Heu ist darin gelagert und strömt einen wunderbaren würzigen Duft aus. Im letzten Tageslicht bereiten wir uns daraus ein Schlaflager. Unsere Eselchen binden wir an einen Baum. Zur Belohnung lege ich ihnen einen ordentlichen Heuhaufen vor die Füße, und ich hoffe, sie verzeihen mir, dass es für sie kein Wasser gibt, aber das bisschen, was wir noch haben, ist so gut wie unsere einzige Wegzehrung.
Die ersten Sterne leuchten am Firmament, und uns steht eine lange Nacht bevor. Eigentlich fühle ich mich total erschöpft, aber sicherlich werde ich kein Auge zutun. Verstohlen gähne ich und krame in meiner Handtasche nach den wenigen Resten unserer Brotzeit und der Wasserflasche. Meine Lippen sind ganz ausgetrocknet, und ich angle in der kleinen Seitentasche nach einem fetten Lippenstift. Meine
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