Zwei Frauen: Roman (German Edition)
sind identisch, niemand bleibt übrig, den man zur Rechenschaft ziehen kann. Laut Claudia war genau das der Punkt, an dem die Gesellschaft Anstoß nahm.
»Die da draußen flippen doch aus, wenn se keinen anne Hammelbeine kriegen können«, sagte sie.
»Die da draußen«, erwiderte ich, »halten Selbstmörder für Feiglinge.«
»Wat en Quatsch!«
»Na …?!«
»Natürlich is dat Quatsch, Eva. Wenn du dir ne Knarre besorchs und mich abknalls, bisse en brutalen Mörder, und ich bin en amet Opfer. Besorch ich mir aber den Ballermann und mach mich selber alle, bin ich en Feichling! – So wat muss doch Quatsch sein, Eva! Wenn überhaupt, bin ich nämlich en brutalet, amet Mörfer.«
»Was bist du?«
»Ne Promenadenmischung aus en Mörder und en Opfer.«
Zweifelnd sah ich sie an. Ich erinnerte mich plötzlich an ein Ereignis aus meiner Schulzeit. Dreizehn oder vierzehn Jahre war ich alt gewesen, als sich ein Mädchen, das ein paar Klassen über mir war, zusammen mit ihrem Freund erschoss.
»Sie war schwanger und hatte Angst, so nicht durchs Abitur zu kommen«, erzählte ich Claudia, »und das war doch nun wirklich kein Grund. Sie war also feige …«
»Wa se dat?«
»Das haben zumindest alle behauptet.«
Claudia grinste. »Weiße«, tönte sie dann, »wenn einen einfach so abgeht, is dat prima für de Leute. Wa ma ebent Schicksal, … en paar Tränkes, Kranz und aus! Is soga ganz prima, weil se sich dann nämlich einreden können, dat den, der nu tot is, noch echt gerne gelebt hätt, dat er dat Leben und sie, die da so am Trauern sind, wahnsinnig geliebt hat. Wenn einen nu selber den Löffel abgibt, sieht dat anders aus, Dann is et Essig mit dat Schicksal. Dann könnense nich demütig annehm, dat ihm tot is, nee … dann müssen se sich fragen, warum ihm tot is, und davor ham se Angst.«
»Angst?«, wiederholte ich irritiert.
»Jawoll. – Wo wan denn de Eltern von deine Schulfreundin? Oder hatte die so wat nich?«
»Doch …«
»Ham nix gemerkt, wie? Unser Hilda ham se dick gemacht, kein Aas wart! – Und wo wan de Lehrer? Die müssen dat doch gesehn ham, dat dat Mädchen am Leiden wa.«
»Schon, aber …«
»N-s-b-o – wie mein Vatter immer gesacht hat: Nix säggen, bloß obpassen!«
»Aber –«
»Nix, Evken! Dat Volk nennt de Selbstmörder Feichlinge, weil die se en schlechte Gewissen machen. So einfach is dat!«
Die Selbstsicherheit, mit der Claudia das sagte, beeindruckte mich fast mehr als der Inhalt ihrer Worte. Mir war jedoch klar, dass ich sie mit meinem Verhalten förmlich zu dieser Selbstsicherheit zwang. Knapp zwölf Stunden waren vergangen, seit sie sich mir anvertraut und ich ihr meine Hilfe zugesagt hatte, aber im Grunde war ich mir überhaupt nicht sicher, ob ich mein Versprechen würde halten können. Sie spürte meine Ängste und Zweifel, und deshalb kämpfte sie mit der vielleicht letzten Kraft, die sie noch hatte.
»Mensch, Evken«, redete sie auf mich ein, »ich bin doch nich iergend sonne Tussi, die kein Spaß ant Leben mehr hat!«
»Dann leb!«, erwiderte ich.
»Wat da vor mir liecht, is aber kein Leben mehr!«
»Das weißt du doch noch gar nicht!«
»Ich werd dat auch nie wissen, Eva … aber de andern. – Ich kenn de Menschen, glaub mir dat! Solang ich mich ebent noch rühren kann, machen die mir dat Leben hier schmackhaft, aber wenn ich se dann ers ma ausgeliefert bin, lassen se nix aus, um mir dat gleiche Leben zu vermiesen.«
Ich schluckte. Aus eigener Erfahrung musste ich ihr da leider beipflichten. Wir alle, die wir in dieser Klinik lagen, hatten solche Fälle schon häufiger erlebt, als uns lieb war. Ein sterbenskranker Angehöriger wurde verhätschelt und zum Kämpfen ermutigt, bis sich einwandfrei herausstellte, dass er nicht mehr kämpfen konnte. War er dann wehrlos, und zwar so wehrlos, dass er auch an dem Zustand seiner Wehrlosigkeit nichts mehr ändern konnte, setzte eine allgemeine Enttäuschung ein. Man befand, der Betreffende hätte es mit ein bisschen mehr Willen vielleicht ja doch noch schaffen können, kreidete ihm seine Schwäche insgeheim übel an und kam zu dem Schluss, dass dieses Leben, das da jetzt gelebt würde, doch nun wirklich keinen Sinn mehr hätte.
»Bis gestern dachten wir ja noch, … aber jetzt wäre es wirklich ein Segen, wenn das ein Ende nähme …!«
Der Kranke musste sich das nicht nur anhören, sondern er. stand zudem vor der Tatsache, dass er sein nunmehr offiziell für »sinnlos« erklärtes Leben aus eigener Kraft nicht mehr
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