Zwei Frauen: Roman (German Edition)
»Großzügigkeit« eher Kopfzerbrechen. Sie war mir ebenso unverständlich wie der Umstand, dass meine diversen »Diebstähle« niemandem auffielen. Nahezu jeden Abend stattete ich meinen Mitpatientinnen zwanglose Besuche ab, und dabei ließ ich mal bei der einen, mal bei der anderen eine oder auch zwei Pillen verschwinden, erzählte einen Witz und wünschte eine angenehme Ruhe.
Wenn das wirklich niemand merkte, war ich so talentiert, dass sich gewisse Kreise um mich gerissen hätten. Da ich mich für so talentiert nicht hielt, nahm ich eher an, dass es allen auffiel und sie nur nichts sagten, um mich zu schützen. »Oder aber«, erklärte ich Claudia, »oder Mennert und Behringer –«
»Is doch scheißegal«, schnitt sie mir das Wort ab, »Hauptsache, du komms dran an dat Zeuch, et eilt! «
Es eilte wirklich. Claudias Kachexie verlief mit erschreckender Rasanz, und manchmal glaubte ich sogar, den Verfall bildhaft sehen zu können. Seit Ende Juni kam es immer häufiger vor, dass sie ihre Beine nicht mehr bewegen konnte. Dann wiederum hatte sie das Gefühl, es würde Feuer darin brennen. Auch ihre Hände und Arme bereiteten ihr zusehends Schwierigkeiten, Dinge glitten ihr aus den Fingern, oder es kam zu ausladenden Reflexbewegungen, die sie nicht kontrollieren konnte.
Das Schlimmste waren aber wohl die Schmerzen. Sie waren überall, im ganzen Körper, sogar im Kopf. Claudia hörte Töne, die es gar nicht gab, und sie sah Farben in einer Helligkeit, dass sie die Augen davor verschließen musste. Die geheimnisvollen Spritzen, die dem Tropf beigefügt wurden, reichten schon bald nicht mehr aus, um dem beizukommen, und so verabreichte man ihr ab Anfang Juli so genannte »Cocktails«, ein Gemisch aus Opiaten, das wenigstens vorübergehend Linderung verschaffte. Um sechs Uhr in der Frühe bekam sie den ersten, die weiteren dann alle vier Stunden bis zweiundzwanzig Uhr. Die Wirkung hielt jedoch nur etwa zwei Stunden vor. Danach drehte Claudia regelmäßig durch, kreischte herum, war voller Aggression, und ihre Augen loderten wie Feuer.
»En verkrebstet, süchtiget Monster«, nannte sie sich selbst in diesen Momenten, und jedes Mal, wenn sie sich danach wieder etwas besser fühlte, musste ich aufstehen, unsere bisherige Medikamentenausbeute aus dem Schrank holen. Dann wurde unter der Bettdecke gezählt. Derart einträchtig saßen wir auch am Nachmittag des 13. Juli zusammen. »Na?«, fragte Claudia nach einer Weile. »Wie viel hasse?«
»Dreiundzwanzig!«, antwortete ich. »Und du?«
»Sechsendreißig! – Ob dat reicht?«
Ich überlegte angestrengt. »Ich glaube schon«, meinte ich dann, »sechzig Schlaftabletten! Ich bitte dich Claudia, das schläfert ja eine mittlere Kleinstadt ein.«
Daraufhin stöhnte sie laut und rollte die Augen. »Also pass ma auf«, krächzte sie, »ers ma sind dreienzwanzig und sechsendreißig nich sechzig sondern neunenfuffzig, und zweitens bin ich nu ma keine mittlere Kleinstadt, sondern Claudia Jacoby.«
»Und was heißt das?«
»Weitersammeln! – Oder … nee! Ich hab noch ne bessre Idee!«
Noch am gleichen Abend, kurz bevor die Nachtschwester die Medikamente austeilte, setzte ich mich draußen auf den Gang hinaus. Claudias Idee war grandios, für mich allerdings auch äußerst gefährlich. Entsprechend nervös war ich, und damit das nicht auffiel, hatte ich mir eine Illustrierte mitgenommen.
Intensiv starrte ich auf die einzelnen Bilder und Texte, so intensiv, dass es mich überhaupt nicht gewundert hätte, wenn ich ein Loch in das Papier gestarrt hätte. Ebenso intensiv belauerte ich die Nachtschwester, sah durch die Augenwinkel, wie sie von einem Zimmer ins andere ging, hörte, was sie zu den einzelnen Patientinnen sagte.
»Ihre Tabletten habe ich Ihnen auf den Nachttisch gelegt«, sprach sie mich zwischendurch kurz an.
»Danke!«, erwiderte ich und zwang mich zu einem krampfhaften Lächeln.
»Will Claudia wieder ein Glas Milch?«, fragte sie.
»… Bestimmt …!«
»Komisch! Ich könnte schwören, Eva, dass sie mir vor Monaten mal gesagt hat, Milch stünde in ihrer Rangliste für Brechmittel an allererster Stelle … und jetzt seit zwei Wochen dieser Sinneswandel …!?«
In meinem Gehirn ratterte es nur so. Die Nachtschwester hatte Recht. Claudia hasste nichts so sehr wie Milch, aber seit etwa vierzehn Tagen ließ sie sich allabendlich ein Glas bringen, das ich dann sofort über dem Ausguss entleeren musste. Was das sollte, verriet sie mir nicht, doch war ich sicher,
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