Zwei Frauen: Roman (German Edition)
Ballettmeisterin.
»Du halt den Mund und die Glieder warm!«, fauchte sie mich an.
Das ließ sogar Peter in Mitleid verfallen.
»Ich verlass mich auf dich!«, flüsterte er und umarmte mich. Mir kamen fast die Tränen.
Dann lief die Zeit, die letzten fünf Minuten rasten nur noch so dahin. Verzweifelt versuchte ich, ein inniges Vaterunser zu beten, wurde aber immer wieder von Frau Gruber unterbrochen.
»Lass diesen Unsinn!«, zischte sie. »Mach lieber ein paar Yoga-Übungen!«
Ich hörte sehr wohl, ließ mich aber nicht beirren. Unter Mühen führte ich mein Gebet zu Ende, und ich hatte noch nicht ganz »Amen!«, gesagt, als mir der Inspizient auch schon auf die Schulter klopfte.
»Es ist so weit!«, sagte er.
Ich schluckte.
»Schschsch …«, klang es von allen Seiten, »… wir fangen an!«
Im gleichen Moment verlöschte das Licht im Zuschauerraum, und das Orchester beendete das disharmonische Einstimmen der Instrumente, fand sich zusammen im Kammerton A – er bohrte sich wie ein Dolch in mein Innerstes. Dann trat Stille ein, der Vorhang öffnete sich, jemand hustete, das Spiel begann …
… ich fühlte mich elend. Meine Beine zitterten, meine Zähne klapperten, meine Haare kräuselten sich, doch außer mir schien das niemand zu bemerken. In den Augen der Zuschauer stand ich unerschütterlich fest auf meinen Fußspitzen, drehte und sprang, wie die Choreographie es verlangte. Dabei fühlte ich mich wirklich elend, elender denn je. Mit jedem Schritt, den ich tat, wurden meine Schmerzen bewusster, und ich kämpfte mich mit dem Mut der Verzweiflung durch eine namenlose Hölle – aber ich kämpfte.
Als sich die Rhapsody in Blue dem Ende zuneigte, rann mein Schweiß in Strömen. Es war kalter Angstschweiß. Das Haar klebte mir am Kopf, und meine rechte Wimper war in Auflösung begriffen, aber dann gab es Applaus, und einer der Bühnenarbeiter schrie »Umbau!« Jimmy strahlte. »Fantastisch!« Frau Gruber und Peter brummelten im Chor »Weiter so!«
Es hatte also niemand etwas bemerkt.
Mit letzter Kraft schleppte ich mich in die Garderobe zurück. Dort musste ich mich erst einmal übergeben.
»Was ist?«, fragte Frau Schmidt. »Um Gottes willen!«
»Nichts!«, antwortete ich rasch. »Es ist alles in bester Ordnung.«
Dann ließ ich mich umschminken und wechselte das Kostüm. Während Hilary im Amerikaner in Paris das Publikum von den Stühlen riss, saß ich in der Garderobe und traf eine folgenschwere Entscheidung: Der Beipackzettel meiner Medikamente nannte als Höchstdosis acht Tabletten pro Tag. Zehn hatte ich bereits intus, spürte jedoch keine Linderung. Ich musste diese Schmerzen aber loswerden, ich musste gut sein.
So schüttete ich in einem Anflug von Wahnsinn vier weitere Tabletten in mich hinein, schluckte drei Aufputscher und ließ mir von Frau Schmidt eine Flasche Sekt aus der Kantine bringen.
»Was?«, entsetzte sich die. »Alkohol und Tabletten?«
»Bitte!«
Sie sah wohl meinen Augen an, wie dringlich es war, und so tat sie mir den Gefallen.
Etwa eine Viertelstunde später setzte die Wirkung ein. Die Schmerzen vergingen, das Lampenfieber schwand. Als ich eine weitere Viertelstunde später auf die Bühne trat, wusste ich, dass Gershwins Konzert für Klavier und Orchester in F-Dur für mich zu einem Tanz auf dem Vulkan werden sollte. Es war wie ein Traum. Ich entglitt meiner Körperlichkeit und glaubte, mir selbst zusehen zu können. Ich fiel in eine Art von Ekstase, in der alles wie von selbst ging. Meine Pirouetten waren schneller und sicherer als sonst. Meine kleinen Sprünge waren hart wie Schläge, und die großen glichen dem Flug eines Vogels, der nur deshalb zur Erde zurückkehrte, weil die Choreographie es so verlangte. Im Adagio wogte mein Körper gedehnt und schmerzlich, und die Musik wurde zu einem Strang, an dem ich mich emporzog, um den großen Augenblick der Vollendung zu erleben.
Ich war in einer anderen Welt. Es war die Welt des Einsseins mit der Sphäre, die Welt des Morphins.
Peter ließ sich von mir mitreißen, und so tanzten wir plötzlich wie der Prinz und die Prinzessin aus dem Märchen meiner Kindheit. Der erste Satz des Konzerts küsste uns, der zweite umarmte uns, im dritten trug uns die Musik empor in schwindelnde Höhen, und wir glaubten schon, auf den Flügeln unserer Fantasie in das Reich meiner Träume entfliehen zu können. Aber die Wirklichkeit holte uns ein:
Schlusshebung! Um Haaresbreite hätte ich in meinem Rausch die einfache Variante gemacht.
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