Zwei Frauen: Roman (German Edition)
nicht ertragen konnte, besorgte ich mir Tabletten aus der Apotheke. Die halfen jedoch nicht. Da bekam ich einen »Tipp«: Ich ging zum Bahnhof, kam ins Gespräch mit Herrschaften, die in verschlissenen Mänteln in düsteren, muffigen Ecken hockten, Schnapsflaschen und Zigarettenkippen in der Hand hielten und sämtliche Wohlgerüche des Orients verströmten. Sie halfen mir weiter, und so fand ich mich eines Morgens im verdreckten Kloraum eines abgestellten Eisenbahnwaggons wieder. Es war bitterkalt darin, und es roch nach Kot und abgestandenem Urin. Durch das halb offene Milchglasfenster drang zudem der Gestank von feuchtem Metall. Das kleine Waschbecken war vom Schmutz verschmiert, der Spiegel war blind, auf dem Fußboden lagen gebrauchte Papierhandtücher, und die klebrige Klobrille war gerissen. Gerade wollte ich entsetzt davonlaufen, als ein Mann hereinkam. Es war ein finsterer Geselle, aber gegen harte Währung gab er mir ein Päckchen Tabletten, die halfen. Sie fielen zwar unter das Betäubungsmittelgesetz und hatten derart starke Nebenwirkungen, dass ich gleichzeitig auch Aufputschpräparate schlucken musste, aber sie halfen.
So zehrten sich die eigentlich für den Sportwagen gedachten Ersparnisse zusehends auf. Die Premiere des Ballettabends rückte immer näher und beschäftigte mich so sehr, dass ich kaum bemerkte, wie rasant mein Pillenbedarf stieg. Täglich brauchte ich mehr, um leistungsfähig zu sein, und je mehr Pillen ich schluckte, desto nervöser wurde ich. Unter meinen Launen litten besonders Hilary und Frau Schmidt. An sie gab ich den Druck weiter, den Frau Gruber, Jimmy und Peter auf mich ausübten. Meist nahmen sie es kommentarlos hin, manchmal beschwerten sie sich darüber, aber niemals versuchten sie, sich in meine Lage zu versetzen. Der Ballettabend war nun mal das Einzige, woran ich denken konnte, er war meine große Chance, er sollte der Beginn meiner Karriere werden. Deshalb ignorierte ich auch, dass ich immer weiter abnahm und einen nahezu unerträglichen Ekel gegenüber Fleisch, Wurst und Süßigkeiten verspürte. Ich hatte lediglich Angst, die anderen könnten etwas bemerken. Diese Angst steigerte sich mit jeder Tablette, und als ich kaum mehr mit ihr leben konnte, brachte ich meine gesamte Garderobe in die Änderungsschneiderei und fertigte mir eine Art von Korsage, die von oben bis unten mit Bleiband ausstaffiert war. Dann fühlte ich mich sicher.
»Du irrst dich«, erklärte ich jedem, der mich fragte. »Ich habe nicht abgenommen, sonst würden meine Sachen ja nicht passen. Ich kann mich auch gern auf die Waage stellen.«
Diese gelungenen Betrügereien steigerten meine Euphorie nur noch. Ich redete mir ein, stark zu sein, und kämpfte mich wie in Trance zum Ziel.
KAPITEL 3
Der 1. März 1976 war ein bitterkalter Wintertag. Seit Wochen lag die Stadt unter einer dichten Schneedecke, und der ständig verhangene Himmel ließ es kaum mehr richtig hell werden.
Den Tag hatte ich im Bett verbracht, mit der Hoffnung, so etwas wie Ruhe zu finden.
Gegen Mittag wurden die Lider schwer, mein Atem floss gleichmäßig, und das Ticken des Weckers klang wie ein Schlaflied. Eh ich mich versah, machten meine nervösen Gedanken aber alles wieder zunichte, und ich riss, von Visionen gepeinigt, die Augen auf: Der Atem begann zu rasen, die Zeitbombe auf meinem Nachttisch rüstete zum Countdown. Ich war hellwach.
Erst als der Wecker um halb vier klingelte, machte sich eine bleierne Müdigkeit in mir breit. Jetzt hätte ich schlafen können … nur war es leider zu spät.
»Premierenfieber!«, erklärte meine Ballettmeisterin. »Nichts Besonderes, das hat jeder.«
Dass es jeder hatte, beruhigte mich zwar nicht, aber dafür zeigte Frau Gruber keinerlei Verständnis. Sie hatte andere Dinge im Kopf.
Durch meinen Gewichtsverlust hatte Peter zusehends das Verhältnis zu meinem Körper verloren. Einige Hebungen, insbesondere die eingesprungenen, waren dadurch völlig aus den Fugen geraten. Aus diesem Grund hatte Frau Gruber trotz der bevorstehenden Premiere eine letzte Probe anberaumt. Ich selbst fühlte mich überanstrengt. Sogar an diesem 1. März hatte ich trotz Bettruhe sechs Tabletten gebraucht, um die Schmerzen überhaupt ertragen zu können. Jetzt schluckte ich zwei weitere und jagte zwei Aufputschpillen hinterdrein.
Gegen halb fünf verließ ich das Haus. Draußen war es schon dunkel. Ich stapfte vorsichtig die schlecht beleuchtete Straße entlang. Die Luft war eisig. Ich bemühte mich, den Mund
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