Zwei Frauen: Roman (German Edition)
seiner Träume gestanden hatte, dieser Bergsteiger thronte nunmehr hoch oben auf dem Gipfel. Er hatte sein Ziel erreicht, ich hatte mein Ziel erreicht. Jetzt musste ich meinen Gipfel wieder verlassen, ich musste hinabsteigen in die Welt, und dabei galt es, wie beim Emporklettern, einen Schritt nach dem anderen zu tun, mutig, aber nicht unbedacht. Es hatte sich also nichts geändert – und doch hatte sich alles verändert, das Ziel nämlich …
Ich steckte den Entlassungsschein in das Seitenfach meiner Reisetasche und zog den Reißverschluss zu. Dann ging ich ins Bad, um einen letzten Blick in den Spiegel zu werfen. Gut sah ich aus, groß und schlank, mit perfekt frisiertem Haar und kunstvoll hergerichtetem Gesicht. Eigentlich sah man mir meine Vergangenheit nicht an, und doch sah ich nicht aus wie ein zwanzigjähriges Mädchen. Da lag etwas in meinen Augen, was fremd schien: Es war ein Glanz, der vom Tod erzählte und der zugleich nach dem Leben schrie, es war ein kindliches Feuer, das in der friedvollen Dämmerung des Alters glühte. Es war ich . Mein Innerstes spiegelte sich in meinen Augen und strahlte nach außen, für alle Zeiten.
Ein letztes Mal fuhr ich durch mein Haar, nahm die Bürste, ließ sie im Kosmetikkoffer verschwinden, zog meine Kostümjacke über. Das Zimmer wirkte plötzlich steril wie jedes andere Krankenzimmer. Sechsundzwanzig lange Monate hatte ich in diesen vier Wänden verbracht, hatte gelebt, gelitten, gelernt. Hier waren Menschen gestorben und Träume Wirklichkeit geworden, hier war aus mir eine andere geworden, doch schien all das längst Vergangenheit zu sein, eine Vergangenheit, in der für mich kein Platz mehr war. Ich nahm mein Gepäck und ging zur Tür … das Leben ging weiter. Was hinter mir lag, war schwer gewesen, aber was vor mir lag, würde auch nicht einfach werden, da brauchte ich mir gar keine Illusionen zu machen. Es würde neue Probleme geben, neue Sorgen, neues Leid. Ich durfte nicht glauben, in diesen zwei Jahren das Dunkel meiner gesamten Existenz ausgelebt zu haben, ich durfte nicht erwarten, fortan nur noch im Licht zu stehen, sozusagen als Entschädigung. Andere Herausforderungen würden auf mich zukommen, andere Ängste, andere Kümmernisse, damit musste ich rechnen. Denn das Leben ging weiter … Ich öffnete die Tür und ging festen Schrittes hinaus – ohne mich noch einmal umzusehen.
Von den anderen Patientinnen hatte ich mich schon am Vortag verabschiedet. Sie hatten mir versprechen müssen, mir einen großen »Bahnhof« zu ersparen. Wie ich jetzt feststellen durfte, hielten sie ihr Wort. Niemand war auf dem Gang, ich konnte ungestört auf die Schwingtür zugehen, die Reisetasche in der rechten, den Kosmetikkoffer in der linken Hand, wie damals. Als ich an Zimmer 104 vorbeikam, blieb ich aber doch noch einmal stehen. Die Tür stand einen Spalt weit geöffnet, sodass ich hören konnte, was Schwester Helma gerade zu einer Patientin sagte: »… Die hier nehmen Sie morgens, die nehmen Sie mittags, die nehmen Sie abends. Die nehmen Sie morgens und abends, die hier nur mittags, das ist das Ovulum, die nehmen Sie abends, und die beiden hier, die nehmen Sie jetzt gleich. Alles klar? …«
»Mmh!«
»Ach ja, Kathrin, damit es da keine Missverständnisse gibt: Das Ovulum … diese dicke, weiße Tablette … das Ovulum bitte nicht schlucken!«
Für einen Moment herrschte Totenstille. »Halten Sie mich eigentlich für dämlich?«, erklang dann Kathrins sonores Organ.
Schwester Helma seufzte. »Oh, einmal ist es mir passiert …«
Es ging also wirklich weiter, auch auf S 1 hörte die Welt nicht auf, sich zu drehen. Ich verließ die Station durch die Schwingtür. Schwester Helma tat dort noch jahrelang ihren Dienst. Ich lief durch das Treppenhaus in die Eingangshalle hinunter. Schwester Gertrud endete als Geliebte eines verheirateten Mannes und als seine Sprechstundenhilfe in einer Landarztpraxis. Ich durchquerte die mit vielen Menschen gefüllte Halle. Doktor Behringer sollte diese Klinik im Sommer 1984 verlassen und in die Forschung gehen. Ein Jahr später sollte Professor Mennert bei delikatem Anlass an akutem Herzversagen sterben, und meine Freundin Daniela sollte einen Kinderarzt heiraten und Mutter von Zwillingen werden: Eva und Katharina. Nein, die Welt hörte nicht auf, sich zu drehen, und ich, ich grüßte die freundlich lächelnde Nonne an der Pforte und trat in den Park hinaus.
Draußen war es hochsommerlich warm, man mochte kaum glauben, dass es noch vor
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