Zwei Frauen: Roman (German Edition)
neigte sich meine eigentliche Kindheit schon ihrem Ende zu: Ich wurde nämlich schulpflichtig.
»Mit dem heutigen Tag beginnt der Ernst des Lebens!«, sagte Papa. »Bildung ist von enormer Wichtigkeit, Eva! Und Fleiß! Nur wer fleißig ist, kann es im Leben zu etwas bringen, und was du hast, das musst du dir erst mal selbstständig erhalten können. Tu deine Pflicht, Eva! Denn nur wer seine Pflicht tut, hat auch Erfolg! Und Erfolg, Eva, Erfolg ist das Allerwichtigste!«
»Außerdem …«, fügte Mama hinzu, »… Lernen ist schön!«
All diese Dinge hörte ich in den folgenden Jahren so oft, dass ich sie bald selbst glaubte und mich auch daran hielt. Ich war fleißig wie ein Bienchen, pflichtbewusst wie ein preußischer Offizier und erfolgreich wie eine Martin. Reibungslos überstand ich die Umschulung aufs anspruchsvollste Gymnasium der Stadt, nahtlos ging es weiter mit Einsern und Zweiern, und dafür wurde ich daheim weder gelobt noch belohnt. Gute Noten waren selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich war, dass ich nach dem Unterricht so überaus wichtige Dinge wie Reiten, Tennisspielen und Segeln lernte. Deshalb musste ich samstags immer aufs Pferd, mittwochs und freitags auf den Aschenplatz und sonntags mit Papa ins Boot. Ich nahm das alles auf mich, aber mehr aus Berechnung als aus Leidenschaft. Reiten war meines Erachtens nur für die Figur des Pferdes von Vorteil, der Unterschied zwischen Steuerbord und Backbord war mir nur gleichgültig, und der Sinn, der darin bestehen sollte, mit der Vor- oder mit der Rückhand auf einen wehrlosen Filzball einzuschlagen, wollte mir auch nicht einleuchten. Dennoch tat ich, was man von mir verlangte, denn sonst hätte man mir womöglich nicht mehr meine Sternstunden finanziert: die Montage, die Dienstage und die Donnerstage, an denen ich zum Ballettunterricht ging. Diesen Stunden fieberte ich entgegen, und wenn es so weit war, wenn ich endlich an der Stange stand, zu sanfter Klaviermusik meine Übungen machte und meinen Körper von den Zehen- bis zu den Haarspitzen spürte, dann, nur dann erfüllte mich endlich das Gefühl, das mir sonst immer fehlte, das Gefühl, wirklich auf der Welt zu sein.
Die Einzige in meiner Familie, die dafür Verständnis zeigte, war Oma Tati. Sie ließ sich so manches Mal etwas von mir vortanzen, und wenn ich ihr dann gestand, dass ich eine berühmte Primaballerina werden wollte, lächelte sie immer und meinte: »Dann musst du viel üben, Eva!«
Als sie starb, war ich gerade elf, und ihr Tod war das schmerzlichste Ereignis meiner Kindheit. Von einem Tag auf den anderen war Oma Tati nicht mehr da, und es hieß, dass sie auch nie zurückkehren würde. Das konnte und wollte ich mir gar nicht vorstellen, auch wenn man behauptete, es ginge ihr da, wo sie jetzt wäre, besser als auf Erden. Während der Trauerfeier weinte ich so laut, dass mich der Herr Pfarrer mehrmals strafend ansah, und nach der Beisetzung lief ich sofort nach Hause und verkroch mich in mein Zimmer. Dort blätterte ich in Oma Tatis Bibel, denn die hatte sie mir hinterlassen – das Einzige, was mir von ihr geblieben war. Sie selbst hatte diese Bibel an dem Tag ihrer Hochzeit bekommen, und unter ihrem Namen und dem meines Großvaters stand mit der Hand geschrieben:
»Möge Gott mir die Kraft geben, die Dinge anzunehmen, die ich nicht ändern kann; den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann; und die Weisheit, zu unterscheiden.«
Ich ahnte nicht, was diese Worte einmal für mich bedeuten sollten. An jenem Tag, dem traurigsten meines bisherigen Lebens, las ich sie zum ersten Mal, und sofort hörte ich auf zu weinen – denn ich fühlte mich plötzlich erleichtert …
Dieses Gefühl hielt allerdings nicht lange vor. Der Tod von Oma Tati traf mich nämlich doppelt hart. Er beraubte mich nicht nur eines Menschen, der mich geliebt hatte, sondern er lieferte mich zudem einer Person aus, die mich nicht liebte: Großmutter Martin.
»Oh, wie entsetzlich!«, hatte sie nach meiner Geburt erklärt. » Nur ein Mädchen!«
Sie selbst war zwar auch nichts Besseres gewesen, aber genau das war wohl der Punkt. Als eine Frau, die nur eine Frau war, hatte man es ihr im Leben nicht gerade leicht gemacht, und dafür rächte sie sich im Alter: Nichts fand ihre Zustimmung, niemand machte es ihr recht, natürlich auch ich nicht.
»Ich habe so gehofft, dass Henriette dich mit ihrem Gebetbuch dazu bringt, ins Kloster zu gehen, Eva! Aber nein, sie zog es vor zu sterben! Mir bleibt also
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