Zwei Frauen: Roman (German Edition)
verärgert. Stattdessen flog etwas wie ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie bat mich herein, kochte mir eine Tasse Tee und richtete das Gästezimmer her.
»Siehst du, Eva, das ist fortan dein Zimmer! Und jetzt schlaf dich erst einmal aus!«
Als ich am nächsten Mittag aufwachte, sah die Welt nicht mehr so trübe aus wie in der Nacht zuvor. Gewiss, ich hatte meine Eltern verloren, aber zum Ausgleich harte ich etwas anderes gewonnen, etwas, was ich mir schon immer gewünscht hatte: Endlich konnte ich regelmäßig trainieren, ohne mich jedes Mal rechtfertigen zu müssen, endlich konnte ich für das Ballett leben, für diesen Traum, den ich seit meiner Kindheit träumte. Ich beschloss, das, was als Strafe gemeint gewesen war, anzunehmen wie ein Geschenk. Alles wollte ich tun, damit mein großer Traum Wirklichkeit würde.
Frau Gruber half mir dabei, wo sie nur konnte. Mehrere Stunden pro Tag arbeitete sie mit mir. In der Freizeit hetzte sie gegen meine Eltern, was eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen wurde. Sie nannte »diese Leute« borniert und dekadent. »Schau dich doch bloß an, Eva! Du bist viel zu dick, und das kommt von den Soßen und Torten und von den vielen Kartoffeln!«
»Aber ich esse doch gar keine –«
»Ungeschälten Reis musst du essen, Eva, der ist gesund, und Salat und kurz gebratenes Fleisch!«
»Aber –«
»Und dann guck dir mal dein Gesicht an, Kind! Wenn man so ein Gesicht hat, darf man keine so breiten Augenbrauen tragen, das geht einfach nicht. Die musst du dir zupfen, Eva, ganz schmal musst du dir die zupfen, komm mal her, ich mach’ dir das! Und überhaupt solltest du dich schminken, damit du nach was aussiehst, das werde ich dir auch gleich mal zeigen, Eva! Komm!«
Ich kam jedes Mal und ließ alles mit mir machen, ließ mir da etwas wegrasieren, dort etwas hinmalen, sogar meine Haare ließ ich nach Frau Grubers Wunsch und Willen bearbeiten, denn die hatte sie von Anfang an nicht gemocht. Sie reichten mir bis zur Taille und waren mittelblond, mit einem leicht rötlichen Stich. Frau Gruber befand jedoch, mit einer solchen Farbe liefe jeder Straßenköter herum, und nachdem ich mich zwei Jahre lang zur Wehr gesetzt hatte, gab ich schließlich nach: Meine Haare wurden gefärbt.
Im ersten Anlauf wurde aus einer mittelblonden Eva eine feurige Rothaarige. »Es sähe gut aus«, äußerte Frau Gruber, »wenn du nicht die erotische Ausstrahlung eines gut gewachsenen Stangenspargels hättest.«
Also wurde ich umgefärbt: schwarz. Doch auch das war nicht des Rätsels Lösung, denn das passte allenfalls zu meinem Temperament. So wurde die Farbe herausgezogen, und ich erblondete wieder, immer mehr, immer heller. Als meine Haare endlich den Farbton einer Marilyn Monroe angenommen hatten, grunzte meine Ballettmeisterin zufrieden: »Das ist es!«
KAPITEL 2
Obwohl Frau Gruber sehr viel für mich tat, wurde ich das Gefühl nicht los, als täte sie mir damit auch sehr vieles an. Wie eine Kunstfigur kam ich mir vor, wie eine Puppe, die Frau Gruber selbst erschaffen hatte und der sie jetzt nur noch zu befehlen brauchte, und prompt tat das Püppchen, was sie wollte. Ich trat an auf Kommando; ich stand stramm auf Kommando; ich erledigte, was man mir auftrug; ich lächelte auf Kommando; ich sagte immer nur, was ich sagen sollte, und – was das Schlimmste war – ich dachte sogar zu Frau Grubers Wohlgefallen, denn da sie behauptete, meine Gedanken lesen zu können, hütete ich mich, etwas zu denken, was ihr vielleicht nicht genehm wäre. Ich stand also ganz unter ihrem Einfluss. Ich war ihr Geschöpf, und dafür, dass sie das aus mir gemacht hatte, konnte ich ihr unmöglich auch noch dankbar sein. Genau das erwartete sie aber von mir. Meine Ballettmeisterin verlangte Dank und Bewunderung von mir. Verweigerte ich ihr die demütige Anbetung, wurde ich sofort bestraft. Dann musste ich spülen oder putzen, Einkäufe oder anfallende Büroarbeiten erledigen.
»Damit du begreifst, wer hier das Sagen hat, Eva!«
Ich begriff es, schneller, als Frau Gruber lieb war, mit dem Ergebnis, dass ich mich fortan ständig bemühte, ihr etwas vorzuspielen. Bei jeder Gelegenheit erklärte ich ihr, wie unvergleichlich schön sie doch sei. Sobald ich ein paar Mark Taschengeld erübrigen konnte, kaufte ich ihr Blumen. Manchmal spülte und putzte ich sogar freiwillig.
Frau Gruber war eine höchst erfolgreiche Geschäftsfrau. Ihr gehörte eine der renommiertesten Ballettschulen weit und breit, mit sechshundert Klienten; das
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