Zwei Herzen im Winter
Beharrlich setzte sie einen Fuß vor den anderen. Der Gedanke an ein Kind verstörte sie zutiefst. Wie sollte sie es ihm sagen? Wenn er von ihrer Schwangerschaft erfuhr, würde er sie zur Heirat zwingen, das stand fest. Andererseits wäre es grausam und verantwortungslos, ihm die Wahrheit zu verschweigen.
Bald ließen sie den Wald hinter sich und erreichten einen sanften Hang, der ins offene Vorland auslief. Ein schmaler Kiesstreifen säumte die breite Flussmündung. Es herrschte Ebbe. Sie wateten durch den Schlick, jeder Schritt verursachte gurgelnde Sauggeräusche. Beide schwiegen, jeder in seine trüben Gedanken versunken. Brachvögel stelzten auf langen spindeldürren Beinen durch den Schlamm, eifrig mit Nahrungssuche beschäftigt. Ihr schwarzes Gefieder hob sich von den silbrigen Wellen des Flusses ab. Emmeline atmete die frische Seeluft in tiefen Zügen ein, die ihren Magen beruhigte.
„Dort drüben.“ Talvas war stehen geblieben und wies zu den hohen überdachten Schuppen und den flachen Lagerhäusern hinüber. Emmeline nickte erleichtert und zog den Umhang enger um ihre Schultern. Sie war froh, dass sie nicht mehr weit gehen musste, der lange Fußmarsch hatte sie erschöpft.
„Was fehlt dir?“, fragte Talvas mit einem forschenden Blick in ihr bleiches Gesicht, die Augen dunkel umschattet. „Beeile dich. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“
Sie zuckte unter seinem barschen Ton zusammen. Nach ihrer Zurückweisung hatte er allerdings das Recht, wütend auf sie zu sein. Wie wütend würde er erst sein, wenn sie ihm verschwieg, dass ein neues Leben in ihr heranwuchs? Sie hatte fast die ganze Nacht wach gelegen und überlegt, wie sie sich verhalten sollte. Durfte sie in die Normandie zurückkehren, ohne ihm etwas zu sagen? Durfte sie diesem Mann noch ein Kind wegnehmen, der unter dem Verlust seines ersten Kindes so schrecklich gelitten hatte? Sie stolperte durch das hohe welke Schilfgras, ohne eine Antwort zu finden.
Beim Betreten des Schuppens stieg ihr der süßliche Geruch frischer Holzspäne in die Nase. Auf den ersten Blick erkannte sie die vertrauten Umrisse ihre Schiffes.
Auf Holzgestellen aufgebockt, wirkte die Belle Saumur turmhoch, da die untere Hälfte des Rumpfes normalerweise im Wasser lag. Zimmerleute hämmerten die letzten gebogenen Bughölzer fest, andere arbeiteten an Deck und hobelten die Planken glatt. Bei Talvas’ Auftauchen grüßten die Männer, danach setzten sie ihre Arbeit fort.
„Das Schiff ist fast wieder seetüchtig“, brummte Talvas verdrießlich und stieß mit dem Stiefel in einen Haufen lockerer Hobelspäne.
„Ja, das sehe ich.“ Ihre Stimmen hallten dumpf in dem hohen Raum wider. Emmelines Herz klopfte hart gegen ihre Rippen. Sobald das Schiff in See stechen konnte, stand ihrer Abreise nichts im Wege. Unvermutet schosse nihr die Tränen in die Augen, verschleierten ihr den Blick. Halb blind trat sie näher und ließ die Finger über den Rumpf gleiten.
Wieso hatte sie ihn eigentlich nach dem Schiff gefragt? War sie völlig verrückt? Im Augenblick brauchte sie nichts dringender als einen ruhigen Platz, wo sie nachdenken und überlegen konnte, was für alle am besten war: für sie, für Talvas und für ihr gemeinsames Kind.
„Vielen Dank für das Reparieren meines Schiffes. Es bedeutet mir unendlich viel.“ Ihre Finger strichen erneut über das glatte Holz, bevor sie ihm ihr Gesicht zuwandte. Er entdeckte die Tränen in ihren Augen.
„Und warum weinst du?“, murmelte er.
„Ich weine nicht.“ Sie hob die Hand an die Augen. „Das grelle Licht treibt mir das Wasser in die Augen.“
Sein Herz zog sich zusammen in Gedanken an den bevorstehenden Abschied. Er sagte sich wieder und wieder, dass dies die beste Lösung sei. Wenn sie sich weigerte, ihn zu heiraten, sollte sie besser gehen. Seine Gesichtszüge gefroren zur Maske, er hob den Blick zum Mast hinauf. „Die Belle Saumur hat auch ein neues Segel bekommen“, fügte er hinzu und dachte daran, wie Emmeline in jener stürmischen Nacht auf See todesmutig den Mast erklommen hatte.
„Wann kann sie zu Wasser gelassen werden?“ Emmeline bemühte sich um einen förmlichen Ton.
„Morgen, wenn du willst“, antwortete er achselzuckend. „Hier im Hafen ist sie vor Stürmen geschützt.“
Sie nickte. „Dann brauche ich nur noch einen Schiffsführer und eine Mannschaft, um nach Barfleur zu reisen.“ Sie lachte freudlos. „Vielleicht kannst du mir bei der Suche helfen?“
Ihre Blässe machte ihm Sorgen, sie
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