Zwei Herzen im Winter
Bauern und Mägde nahmen in der Mitte der Halle Aufstellung zum ersten Tanz. Emmeline beobachtete die fröhlichen Gesichter der Tanzenden, die, einander an den Händen haltend, eine lange Kette bildeten und sich in zierlichen Schritten im Takt der Musik nach vorne bewegten und schließlich wieder nach hinten, quer durch die Halle. So also sieht das Leben auf der Burg eines edlen Herrn aus, dachte Emmeline. Erfüllt von Musik, Licht und munterem Lachen, ganz im Gegensatz zum bescheidenen Leben, das sie mit ihrer Mutter führte, ganz zu schweigen von dem freudlosen Dasein, das sie an Giffards Seite gefristet hatte. Unter dem Tisch klopfte sie mit den Füßen den Takt zur Musik und beobachtete die hin und her wogende Menschenkette. Und dann sah sie zu ihrer Verwunderung, wie der Anführer der Kette, ein jovialer untersetzter Mann mit verschwitztem Gesicht, unter verschlungenen Armen durchtauchte und die nachfolgenden Tänzer es ihm gleichtaten. Dadurch entstand ein verschlungenes Menschenband, das sich schlängelnd durch den Saal bewegte.
„Dieser Tanz ist mir ein Rätsel, eine wahre Kunst.“ Sie lächelte Guillame an.
„Aber Ihr habt doch gewiss schon getanzt, Madame“, entgegnete er verdutzt.
Emmeline schüttelte den Kopf. „Nein, ich hatte nie Gelegenheit dazu.“ Ihre Worte gingen im Lärm der Hochrufe unter, während die Kette sich immer schneller durch den Saal schlängelte. „Lord Talvas! Lord Talvas!“, rief jemand. Emmelines Blick flog die Hochtafel entlang. Kaiserin Maud in einem hohen geschnitzten Lehnstuhl versperrte ihr die Sicht auf den Burgherrn.
„Erwarten die Leute etwa, dass er mit ihnen tanzt?“ Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Talvas sich unters Volk mischte.
„Ihr werdet staunen, Madame“, entgegnete Guillame augenzwinkernd und spießte sich ein Stück Schweinebraten von dem langen Servierbrett auf.
Ohrenbetäubender Jubel brach los, als Talvas sich erhob, der blendend aussah in einer prächtigen grünen und goldbestickten Tunika, die seine breiten Schultern umspannte wie eine zweite Haut. Das weiß gebleichte Leinenhemd bildete einen starken Kontrast zu seinem gebräunten Gesicht, die dunklen geschwungenen Brauen verliehen ihm ein verwegenes Aussahen. Und plötzlich stand er neben Emmeline, seine engen Beinkleider aus feinstem Ziegenleder betonten die Muskelwölbungen seiner kräftigen Schenkel. Er hielt ihr die Hand entgegen, auf die sie entsetzt starrte. Guillame stupste sie aufmunternd in die Seite. „Nun bietet sich Euch die Gelegenheit, ein Tänzchen zu wagen“, raunte er ihr zu.
„Ich kann nicht tanzen“, flüsterte sie und blickte ängstlich zu Talvas. Sie würde ihn nur in Verlegenheit bringen mit ihrem unbeholfenen Gehopse, noch dazu mit ihrem verletzten Bein. Niemals könnte sie den zierlichen Schritten einer Farandole folgen.
„Kommt, Madame“, forderte Talvas unerbittlich. „Kein Widerspruch. Die Leute wollen Euch ehren, weil Ihr mich wohlbehalten nach Hause gebracht habt.“ Er senkte die Stimme, seine nächsten Worte galten nur ihr. „Auch ich will Euch ehren.“
Ihr Herz klopfte wild.„Ich … ehm …Talvas, mein Bein …?“ Ihre großen grünen Augen flehten ihn an.
Er lächelte nachsichtig. „Das habe ich nicht vergessen, Madame.“ Er griff nach ihrer Hand und zog sie hoch. Sie spürte seinen warmen Atem. „Ich werde Euch nicht fallen lassen.“
Emmeline nahm das Gesichtermeer nur verschwommen wahr, als Talvas sie umsichtig die Stufen hinunter in den Saal führte, umjubelt von seinen Untertanen, die ihm respektvoll Platz machten, als die Musik wieder einsetzte.
„Folgt mir einfach.“ Talvas lächelte aufmunternd. Er hielt ihre linke Hand, und ein pockennarbiger Ritter hielt ihre rechte mit verschwitzten Fingern. Emmeline ahmte Talvas’ Schritte mit grimmiger Verbissenheit nach, vollführte zierliche Schritte im Kreis, die zwischen Gehen und Hüpfen wechselten. Immer, wenn sie auf ihrem schwachen Bein einknickte, stützte Talvas sie so geschickt, dass niemand etwas bemerkte, beinahe, als spüre er den Moment, ehe sie stolperte. Er führte sie wie ein Puppenspieler eine Marionette. Allmählich gewann sie Vertrauen. Er würde sie nicht fallen lassen! Die steile Falte auf ihrer Stirn glättete sich, ihre Lippen umspielte ein zaghaftes Lächeln. Bald wiegte sie sich anmutig zur beschwingten Musik, alles um sie herum begann sich zu drehen wie ein bunter Kreisel, ein Meer aus fröhlich lachenden Gesichtern, nur der feste Druck von Talvas’
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