Zwei Herzen im Winter
unschuldige kleine Seele in den Himmel flog. Sie sah das kleine Mädchen deutlich vor sich: strahlend blaue Augen, schwarzes seidiges Haar … und dann … nichts. Talvas’ kleine Tochter!
„Nein, das ist nicht möglich.“ Die Worte sprudelten aus Emmeline heraus, während sie sich Talvas und Sylvie als Liebespaar vorstellte. Groll nagte an ihrem Herzen, eine Feindseligkeit gegen Talvas drohte das feine Gespinst des gegenseitigen Vertrauens der vergangenen Nacht zu zerreißen.
Sylvie näherte sich wankend und stellte sich neben Emmeline. „Es ist wahr, Emmeline. Jedes Wort ist wahr“, flüsterte sie mit erstickter Stimme.
„Du hast mir nie gesagt, dass du ein Kind hast!“ Emmeline fuhr zu Talvas herum, vorwurfsvoll tadelnd.
„Dafür gab es keine Veranlassung“, erwiderte er knapp und eisig. Die Knöchel seiner geballten Fäuste schimmerten weiß.
Sie wich unter seinem barschen Ton zurück. „Aber du hättest es mir sagen können“, murmelte sie. „Du hättest es mir sagen müssen.“ Ihre Augen brannten, sie senkte ihren tränenverschleierten Blick auf das Kopfsteinpflaster.
„Emmeline.“ Er hob ihr Kinn, sah ihr in die Augen und erneuerte mit diesem Blick die Tiefe des Verständnisses, des Vertrauens zwischen ihnen. „Letzte Nacht war nicht der richtige Zeitpunkt.“
Emmeline nagte an ihrer bebenden Unterlippe, die Wärme seiner Finger besänftigte sie. Er verdiente ihren Groll nicht, ebenso wenig wie Sylvie, die in ihrem dünnen Gewand frierend neben ihr stand. „Aber wieso?“ Emmeline strich sich fahrig mit der Hand über die Augen, im Versuch, ihre Verwirrung zu klären.
Talvas zuckte mit den Achseln. „Ich war jung und töricht, dumm genug, um sie heiraten zu wollen … ein liebeskranker Tor. Als mir klar wurde, was für eine Frau sie ist, war ich erleichtert, dass sie ging … Aber sie nahm mir mein neugeborenes Kind weg, versteckte es vor mir. Das konnte ich nicht fassen. Das verzeihe ich ihr nie.“
Sylvie zuckte unter seinem gnadenlosen Urteil zusammen, zog den zerschlissenen Schal enger um ihre knochigen Schultern. „Es tut mir leid, was ich dir angetan habe, Talvas. Glaube mir, es tut mir unendlich leid.“
Er presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, einige Muskeln in seinem Gesicht zuckten. „Es fällt mir schwer, dir zu verzeihen, Sylvie“, sagte er kopfschüttelnd. „Ich habe meine kleine Tochter zweimal verloren. Einmal, als du sie mir weggenommen hast, und ein zweites Mal, als ich von ihrem Tod erfuhr.“
Ein trockenes Schluchzen entrang sich Sylvies Brust, sie lehnte sich kraftlos an ihre Schwester. Emmeline legte den Arm um ihre Schulter, um ihr Halt zu geben. Nur mit Mühe vermochte sie ihren Gefühlsaufruhr in Grenzen zu halten.
„Talvas, bitte, sei nachsichtig mit ihr. Sie hat genug durchgemacht. Ihr Dorf steht in Flammen, ihre Leute wurden niedergemetzelt, und ihr Ehemann ist nirgendwo zu sehen.“
Talvas’ Miene schien unversöhnlich und starr. Er wollte toben und brüllen, seiner großen Bitterkeit Luft machen, sich rächen an der Frau, die ihm so viel Leid zugefügt hatte. Doch die sanfte Ruhe in Emmelines Augen wirkte beruhigend, er bezwang seinen rasenden Zorn und nickte steif.
Emmeline nahm den Arm von Sylvies Schultern. „Es ist viel Zeit vergangen, Talvas. Du musst dich von deinen schrecklichen Erinnerungen lossagen.“ Sie hielt den Blick auf die glänzenden Schlingen seines Kettenhemds gerichtet und holte stockend Atem. „Dein Kind war in seiner Todesstunde nicht allein.“
Ein stechender Schmerz krallte sich um Talvas’ wundes Herz. Er nahm Emmeline bei den Schultern, seine Finger drückten sich durch den Stoff ihres Bliauts in ihr Fleisch. „Warst du bei ihr?“, stieß er hervor.
Sie erschrak über seine gequälte Stimme. Ohne zu überlegen, legte sie ihre flache Hand an seine Wange, spürte die kalte Haut unter den Bartstoppeln. Sein wettergegerbtes Gesicht war kalkweiß geworden. Sie sehnte sich danach, ihn in die Arme zu schließen und ihn von seiner Trauer und Bitterkeit zu erlösen.
„Ja, Sylvie brachte die kleine Rose zu meiner Mutter und mir nach Barfleur.“
Er rieb sich mit zitternden Fingern die Stirn. „Davon wusste ich nichts.“
„Sylvie trifft keine Schuld am Tod deiner kleinen Tochter, Talvas.“ Sie nahm ihre Hand von seinem Gesicht. „Rose war bei meiner Mutter und mir, als sie an einem Fieber erkrankte …“ Sie sprach nicht weiter, wollte ihn nicht mit Einzelheiten peinigen.
„Warum? Warum war sie
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