Zwei Herzen im Winter
Sattelknauf, sie riss ihn hastig frei und rannte in die schreiende Menge. Sie kauerte sich neben eine Frau, die einen Säugling an die Brust gedrückt hielt, Tränen liefen der Frau über das rußgeschwärzte Gesicht. Sie wiegte sich in ihrem Schmerz hin und her und wimmerte wie ein sterbendes Tier.
„Komm, ich helfe dir“, stammelte Emmeline von Entsetzen übermannt beim Anblick der klaffenden Kopfwunde des Kindes, dem das Blut über das kleine Gesicht lief. Ohne zu wissen, was sie eigentlich tat, versuchte sie der Frau, das Kind wegzunehmen, die sich daran klammerte wie eine Ertrinkende.
„Was ist?“, fragte Emmeline in ihrer Verwirrung. „Warum lässt du dir nicht helfen?“
„Das Kind ist tot, Emmeline.“ Talvas stand mit versteinertem Gesicht neben ihr.
Sie ließ die Arme sinken. Noch nie im Leben hatte sie sich so hilflos gefühlt.
„Komm“, sagte Talvas sanft, „wir wollen deine Schwester finden. Sie wird uns sagen, was passiert ist.“ Er nahm sie am Arm und half ihr hoch.
Emmeline taumelte benommen, ihre Bewegungen waren anfangs wie die einer hölzernen Marionette. „Dort drüben liegt die Burg.“ Sie wies zu hohen Steinmauern hinauf, die hinter den brennenden Hütten aufragten.
„Hoffentlich finden wir deine Schwester unversehrt.“ Talvas blickte besorgt in Emmelines aschfahles Gesicht, bevor er sie in den Sattel hob. Schweigend ritten sie durch das brennende Dorf, danach einen schmalen gepflasterten Weg den Hügel hinauf. Die Pferdehufe klapperten laut auf der Zugbrücke, hallten im Gewölbe des Torhauses wider. Kein Wächter hielt sie auf. Eine unheimlich tödliche Stille lag über dem Ort. Auf dem Burghof stand eine einsame Gestalt in zerrissenen, blutverschmierten Kleidern, das goldblonde Haar hing ihr in wirren Strähnen ins Gesicht. Ihre Schwester Sylvie.
„Um Gottes willen!“ Emmeline sprang vom Pferd. „Was haben sie dir angetan?“ Sie ergriff die bleichen matten Hände ihrer Schwester, die keinerlei Regung zeigte. Mit aufgerissenen Augen starrte sie auf einen Punkt hinter Emmeline. Dann begann sie, den Kopf hin und her zu wiegen.
„Nein, nein, nicht er. Bring ihn fort! Er wird mich dafür strafen, was ich ihm zugefügt habe.“ Ihre Stimme klang hohl.
„Was ist los, Sylvie? Sag, was ist geschehen?“, drängte Emmeline, drehte sich um und folgte dem Blick ihrer Schwester, die sich ihrem Griff entziehen und fliehen wollte. „Sie redet wirr, Talvas. Sieh nur, sie zittert am ganzen Körper.“ Emmeline blickte ratlos zu Talvas, der neben sie getreten war. „Was hat man mit ihr nur gemacht?“
„Ist sie deine Schwester?“ Zwei rote Flecke hatten sich auf den Wangenknochen seines kreidebleichen Gesichts gebildet.
„Ja, meine Schwester Sylvie.“ Emmeline nickte heftig.
„Sylvie Duhamel.“ Talvas konnte kaum sprechen. Sylvie versuchte noch immer, sich Emmelines Griff zu entwinden.
„Talvas, bleib zurück, du machst ihr Angst!“ Emmeline blickte verstört zwischen Talvas und Sylvie hin und her, konnte sich die bedrohliche Spannung zwischen den beiden nicht erklären. „Was ist los, Talvas? Ich begreife nicht. Man könnte meinen, ihr seid euch schon einmal begegnet.“
„Begegnet trifft nicht ganz zu“, presste Talvas zwischen den Zähnen hervor. Seine Gesichtszüge waren versteinert, sein Blick hasserfüllt.
Emmeline berührte ihn am Ärmel. „Sprich mit mir.“
Er lachte hohl. „Sie ist die Frau, die ich einmal heiraten wollte … die Mutter meines Kindes.“
13. KAPITEL
„Was sagst du da?“ Unter der Wucht seiner Worte geriet Emmeline ins Wanken, Sterne tanzten vor ihren Augen. Verständnislos erforschte sie Sylvies bleiches, abgezehrtes Gesicht, suchte nach einer Erklärung. Talvas und Sylvie … ein Paar? Das war nicht möglich, das ergab keinen Sinn. Unmengen von Fragen stürmten auf sie ein. Die Ungeheuerlichkeit seiner Worte lähmte sie. Sie war zu keinem klaren Gedanken fähig. Sylvie wirkte wie eine Traumwandlerin, ihre grünen Augen starrten glanzlos ins Leere, sie schwankte leise, eine bleiche Flamme, die im Wind flackerte.
„Du hast es gehört.“ Talvas’ schneidende Stimme versetzte Emmeline einen Stich. „Diese Frau ist die Mutter meines Kindes. Als sie mich verließ, nahm sie Rose mit, und ich habe meine Tochter nie wieder gesehen.“
Barmherziger Gott! Emmeline dachte an die kleine Rose, die ihre Schwester nach Barfleur gebracht hatte. Das zarte Wesen war nicht länger als eine Woche in der Obhut ihrer Mutter gewesen, bevor ihre
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