Zwei Herzen im Winter
kalten Burg zurückgelassen.
Als Emmeline in den Hof geritten kam, hatte sie an ihre Rettung geglaubt. Ihre Schwester hatte ihren verzweifelten Hilferuf erhalten und war nach England gekommen, um sie nach Barfleur zurückzuholen. Und dann waren ihre Hoffnungen erneut zerplatzt. Sie stürzte in tiefe Mutlosigkeit, als sie Talvas erkannte. Er würde ihr nicht helfen, nach allem, was sie ihm angetan hatte. Aus dem schlaksigen, lebenssprühenden Ritter von achtzehn Jahren, den sie mit koketten Blicken und ihrem verheißungsvollen Lächeln betört hatte, war ein umwerfend gut aussehender breitschultriger Mann geworden – und ein wohlhabender noch dazu, worauf seine prächtigen Kleider schließen ließen. Hätte er damals nur auf sie gehört, hätte er nur nicht darauf bestanden, zur See zu fahren, wäre ihr Leben anders verlaufen. Aber ihre Dummheit, ihre Habgier hatten sie in Edgars Arme getrieben, den reichen Lord, der seine Besitzungen in der Nähe von Boulogne besuchte und ihr den Hof machte. Daran traf Talvas keine Schuld. Wie hätte er wissen können, dass seine Entscheidung, zur See zu fahren, sie dazu verleitet hatte, sich mit einem gewalttätigen Tyrannen zu vermählen? Das hatte sie sich wahrlich selbst zuzuschreiben.
„Komm, Sylvie.“ Emmeline versuchte sie aufzumuntern. „Komm, lass uns ins Haus gehen, bevor uns hier draußen Gefahr droht.“ Sie verspürte auf einmal Angst, ihr Herz krampfte sich zusammen. Würde Talvas unversehrt zurückkehren?
„Zu spät!“ Der weite lange Ärmel von Sylvies hellblauem Bliaut blähte sich wie ein Segel, als sie den Arm hob und zum Tor wies. Emmeline fuhr von Grauen gepackt herum und atmete im nächsten Moment erleichtert auf, als sie Talvas sah, unversehrt, der sich mit langen Schritten näherte. Neben ihm schritt ein hochgewachsener blonder Mann, der lebhaft auf ihn einredete. Seine vornehme Kleidung war mit Lehm bespritzt. Über engen Beinkleidern aus feinstem Rehleder wehte ein roter Wappenrock, bestickt mit zwei goldenen Löwen, unter dem ein Kettenhemd blitzte. Den beiden Männern folgten etwa zwanzig Ritter zu Pferd, deren ovale Schilde in der Mittagssonne glänzten. Ihre aufrecht gehaltenen Speere sahen aus wie ein metallisch glitzernder Wald.
„Gütiger Gott“, hauchte Sylvie und versank in einen tiefen Knicks. „Der neue König.“
Emmeline schob die langstielige Holzschaufel mit dem letzten Brotlaib in den Backofen neben dem Küchenfeuer. Das Gesinde hatte bei seiner überstürzten Flucht vor dem Wüterich halbfertige Gerichte zurückgelassen. Gerade noch rechtzeitig konnte sie mehrere Brathühner am Spieß vor dem Verkohlen retten. Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab, holte mit einer Holzkelle Mehl aus einem Jutesack, schüttete es in eine Holzschüssel, gab Salz, Butter und Wasser hinzu und vermischte die Zutaten zu einem Teig.
„Das Gesinde hatte offenbar keine Ahnung von dem Überfall“, bemerkte Emmeline leise mit einem Blick zu Sylvie, die gebeugt am Küchentisch saß; ihre Teilnahmslosigkeit bereitete ihr Sorgen. Als König Stephen verkündet hatte, dass er und seine Ritter nach dem langen beschwerlichen Ritt halb am Verhungern seien, hatte Emmeline sich sofort bereit erklärt, ein kräftiges Mahl zuzubereiten, und sich mit Sylvie in die Küche zurückgezogen, um mit ihr zu reden. Sie versuchte es erneut, in der Hoffnung, sie endlich zum Sprechen zu bringen. „Gab es denn keine Wächter, um euch zu warnen, bevor die Angreifer die Burg stürmten?“
„Der Überfall kam völlig überraschend“, flüsterte Sylvie tonlos.
„Haben Edgar und seine Soldaten die Angreifer verfolgt?“ Emmeline knetete den Teig. „Ist er deshalb nicht hier?“
„Es war Edgars Werk.“
Emmeline erstarrte, der zähe Teig klebte an ihren Fingern. Sylvie warf die Hände vors Gesicht, ihre spitzen Ellbogen stießen hart auf die Tischplatte, dann sank sie vornüber.
„Dein Gemahl, Lord Edgar, hat sein eigenes Dorf in Brand gesteckt und seine Burg überfallen?“ Emmeline fasste das in Worte, was ihre Schwester nicht über die Lippen brachte. „Aber warum, um Himmels willen?“, fragte sie fassungslos.
Sylvie ließ die Arme sinken und verschränkte die Finger auf dem Tisch. Ihre rot verquollenen Augen suchten ihre Schwester. „Um mir eine Lehre zu erteilen, Emmeline. Um mir zu zeigen, wer mein Herr und Gebieter ist.“ Wieder sprangen ihr die Tränen aus den Augen und liefen ihr über die Wangen.
„Heilige Mutter Gottes.“ Emmeline wischte sich
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