Zwei Herzen im Winter
durch die Menschenmenge, konnte an nichts anderes denken, als Talvas so schnell wie möglich zu erreichen. Die Worte der Greisin hallten in ihr nach. Dieser vermeintliche Robert war Sylvies Ehemann, den Emmeline nie kennengelernt hatte. Immer wieder stellte sie sich auf Zehenspitzen und hielt Ausschau nach Talvas, der ihr in den letzten Tagen so vertraut geworden war, nach seinem dunklen Lockenkopf, seinen markanten Gesichtszügen, seinem roten Waffenrock. Nichts. Wieso hatte sie ihn so plötzlich aus den Augen verloren? Atemlos verlangsamte sie ihre Schritte. Die Vielfalt der Gerüche, der Lärm, das Gedränge machten sie schwindelig.
Und dann sah sie ihn. Eine Welle der Erleichterung durchflutete sie. Er stand alleine in der Menge, nicht weit entfernt von ihr. Sie rief seinen Namen, aber ihre Stimme ging im Tumult der Marktschreier unter. Sie hob den Arm, wollte ihm zuwinken, doch im nächsten Moment wurde er ihr nach unten gerissen und auf den Rücken gebogen.
„Du weißt, wer ich bin, du Miststück!“ Eine gehässige Stimme, Edgars Stimme, zischte an ihrem Ohr. Säuerlicher Dunst nach Honigwein schlug ihr ins Gesicht. Das Blut gefror ihr in den Adern.
„Ich weiß nicht, wovon Ihr redet.“ Sie fuhr zu ihm herum. Zorn mischte sich in ihr Entsetzen beim Anblick seines aufgedunsenen roten Gesichts.
Der Sabber lief ihm aus den Mundwinkeln, er hielt ihren Arm mit eisernem Griff umfangen. „Hör auf mit dem Blödsinn“, zischte Edgar. „Ich habe gesehen, wie du mit dem alten Weib getuschelt hast.“
„Ohne sie hätte ich nicht erfahren, was für ein Schurke Ihr seid“, schleuderte Emmeline ihm wutentbrannt ins Gesicht. „Lasst mich los!“ Sie versuchte vergeblich, ihm ihren Arm zu entreißen.
„Nein, du Schlampe, das könnte dir so passen. Ich lass mir von dir meine Pläne nicht durchkreuzen.“
„Ich verrate Euch nicht“, flehte Emmeline in ihrer Verzweiflung. „Lasst mich los und taucht in der Menge unter. Ich sage Lord Talvas kein Sterbenswörtchen.“
Edgar verengte seine tückischen Augen. „Aber ich brauche dich, Schätzchen. Du bist mein Köder.“
Mit erneuter Kraftanstrengung setzte sie sich zu Wehr, er aber bohrte ihr seine wulstigen Finger schmerzhaft ins Fleisch. „Lasst mich los!“, schrie sie. „Talvas!“ Der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken, als Edgar ihr den Arm verdrehte, sie brutal herumriss und ihren Rücken an seinen fetten Wanst presste. Im nächsten Moment spürte sie die kalte Klinge eines Dolches an ihrer Kehle.
In diesem Augenblick hob Talvas den Kopf in ihre Richtung. Seine Miene erstarrte vor Entsetzen. In drei Sätzen stand er vor Edgar und seiner Gefangenen, die Hand am Schwertgriff. „Robert … was fällt Euch ein?“
„Zurück, Talvas!“, befahl Edgar schneidend. „Nehmt die Hand von Eurem Schwert! Keinen Schritt näher! Oder wollt Ihr, dass ich diesem Unschuldsengel die Kehle durchschneide?“ Er kicherte plötzlich, ein irres Lachen, das gespenstisch über den mittlerweile totenstillen Marktplatz gellte. Die Umstehenden hatten die bedrohliche Szene verfolgt, Neugierige eilten herbei, schaulustig und angstvoll. Der ganze Kirchplatz schien den Atem anzuhalten.
„Lasst die Frau los, Robert!“ Talvas’ Stimme klang erstaunlich gelassen. Aber nie zuvor in seinem Leben hatte er sich hilfloser gefühlt. Das anfänglich zarte Gespinst des Vertrauens zwischen ihm und Emmeline hatte sich mittlerweile zu einem unzerreißbaren Band gefestigt. Todesangst kroch ihm ins Herz, die Brust war ihm zugeschnürt. Er ballte die Fäuste in ohnmächtiger Wut beim Anblick von Emmelines angstgeweiteten Augen. Die scharfe Klinge an ihrem zarten Hals blitzte in der Sonne. Talvas wusste, dass der Mordbube ihr die Kehle aufschlitzen würde, sobald er den Versuch machte, sie zu retten.
„Nein, Talvas, ich lasse sie nicht gehen“, schnarrte Edgar zähnefletschend. „Und ich bin Edgar, nicht Robert. Edgar of Waldeath.“ Ein erschrockenes Raunen flog durch die Menge. Sein Name war in der ganzen Gegend gefürchtet.
„Was wollt Ihr, Edgar? Gold?“ Talvas versuchte ihn zum Reden zu bringen, ihm seine Absichten zu entlocken, während er fieberhaft überlegte, wie er Emmeline aus den Klauen dieses Monsters befreien konnte.
„Nein, Talvas. Mir geht es nicht um Geld. Ich will König Stephen. Es dürfte Euch nicht schwer fallen, mir Euren Schwager in die Hände zu spielen. Liefert mir den König aus, und ich schenke dem Mädchen die Freiheit.“
„Der König lässt sich
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