Zwei Herzen im Winter
tasteten verzweifelt nach einem Lebenszeichen. Und dann spürten seine Finger ein winziges Flattern an ihrer Kehle. Ein Hoffnungsschimmer.
„Nein …“ Er hob ihren leblosen Körper in seine Arme. „Sie lebt.“ Dieu merci ! Er schickte ein Dankgebet zum Himmel, als er sie an seine Brust drückte und mit ihr aufstand. „Sie ist halb erfroren, aber es ist noch Leben in ihr.“ Er trug Emmeline zu dem Ochsenkarren, ihr goldenes Haupt ruhte an seinem Lederwams, der weite Rock ihres Gewandes bildete einen Halbkreis, der bestickte Saum strich wie eine Schleppe über den gefrorenen Boden. „Ich bringe sie zurück nach Hawkeshayne!“
„Aber unser Feldzug gegen Maud?“, fragte Stephen gereizt. „Ich brauche dich in Sedroc. Matilda soll Emmeline mit einer Eskorte begleiten.“
„Maud kann warten, Stephen“, widersprach Talvas mit entschlossen blitzenden Augen. „Ich bleibe bei Emmeline.“ Während er sich mit energischen Schritten dem Ochsenkarren näherte, flüsterte Matilda ihrem Gemahl etwas ins Ohr. Er neigte sich ihr zu und nickte.
Im Ochsenkarren begann Talvas in fliegender Hast Emmeline auszuziehen. Auf hoher See hatte er Menschen an Unterkühlung sterben sehen, und er war fest entschlossen, Emmeline dem Tod zu entreißen. Er war unendlich erleichtert, einen Hauch Leben in ihr gefunden zu haben, aber sie war noch längst nicht außer Gefahr. Nur mit ihrem Untergewand bekleidet, bettete er sie auf seinen Umhang, danach streifte er sich selbst die Kleider ab. Wärmender Hautkontakt war die einzige Maßnahme, um einen unterkühlten Menschen aufzuwärmen. Er presste ihren eiskalten Körper an sich, schlang Arme und Beine um sie und zog den pelzgefütterten Umhang über beide.
„Warum hast du nicht auf mich gewartet, Emmeline?“, raunte er und streichelte ihr wächsernes Gesicht, die blonden seidigen Löckchen an ihrer Stirn, rieb ihr mit den Händen den Rücken, um ihre eisige Starre aufzutauen, suchte in ihrem Gesicht nach einem Lebenszeichen.
„Talvas! Was in Gottes Namen denkst du dir dabei?“ Matilda steckte den Kopf durch die seitliche Bespannung des Karrens, ihre dunklen Augen funkelten neugierig, ihr Kopf wippte mit dem Tritt ihres Pferdes auf und ab.
„Ich versuche, ihr das Leben zu retten“, antwortete Talvas gereizt über den Tadel in der Stimme seiner Schwester, die seiner Mutter so ähnlich war.
„Seltsam. Es ist mir neu, dass man auf diese Weise Leben rettet“, fuhr Matilda herrisch fort. „Bist du etwa nackt unter dem Umhang?“, fragte sie spitz mit einem Blick auf das Kleiderbündel, das neben ihm lag.
„So gut wie …“ Talvas seufzte. Seine jüngere Schwester war gefürchtet für ihre nie endenden Fragen. Emmeline bewegte sich ein wenig in seiner Umarmung. Sein Herz machte einen Satz.
„Das schickt sich nicht, Talvas. Du solltest es mir überlassen, mich um sie zu kümmern.“
„Matilda, sind wird auf der Straße nach Hawkeshayne?“
„Ja, ich beschloss, euch zu begleiten, während Stephen mit seinem Gefolge nach Sedroc reitet. Er ist nicht gut auf dich zu sprechen.“
„Daran kann ich nichts ändern“, antwortete Talvas achselzuckend. „Nun mach die Plane zu, Schwesterherz, es zieht.“
„Tausche bitte den Platz mit mir. Der gute Ruf des Mädchens …“
„Hat jetzt nichts zu bedeuten“, fiel er Matilda ins Wort. „Wichtig ist nur, dass sie wieder zum Leben erwacht.“ Seine Stimme klang rau und belegt.
„Sie bedeutet dir viel.“ Das war eine Feststellung, keine Frage.
„Mehr als du ahnst, Matilda. Mehr als du ahnst.“
17. KAPITEL
Entfernte Stimmen drangen wie durch dichten Nebel an Emmelines Ohr, eine vertraute Stimme, die sie aus dem Dämmerschlaf holte. Mit geschlossenen Augen bewegte sie tastend eine Hand, spürte weiches Leinen und einen dumpfen Schmerz in der Schulter.
„Vertrau mir, Talvas“, hörte sie eine aufmunternde Frauenstimme. „Ich pflege sie gesund. Und ich sorge dafür, dass sie keinen Schritt ohne mich tut.“
Emmelines Wimpern klebten aneinander, als sie versuchte, die Augen zu öffnen. Im hellen Licht, das schräg durch schmale Maueröffnungen einfiel, nahm sie die Umrisse zweier Gestalten wahr: Talvas’ kühn geschnittenes Profil erkannte sie sogleich. Doch die hochgewachsene und schlanke Frauengestalt neben ihm hatte sie noch nie gesehen.
Talvas lachte. Zu Emmelines Erstaunen hob er die Hand und zog neckend an einem schwarzen Zopf der Frau. „Genau das ist meine Sorge, Matilda, denn bei dir bin ich mir nie sicher, was
Weitere Kostenlose Bücher