Zwei Herzen im Winter
Turmgemachs, in dem ein Kohlebecken wohlige Wärme verbreitete. Neben dem Bett stand ein fünfarmiger Kandelaber aus Eisen, dessen dicke Wachskerzen in der Zugluft von der Fensteröffnung flackerten und den Raum in honigfarbenes Licht tauchten. Emmeline saß auf dem Fenstersims und genoss den rotglühenden Sonnenuntergang, bevor sie sich an Matilda wandte.
„Nur ein einfaches Gewand“, sagte sie und hob abwehrend die Hand, als Matilda ein kostbar besticktes Bliaut aus roter Seide hochhielt. Sie wollte auf keinen Fall zu viel Aufmerksamkeit erregen, zumal Talvas seit ihrer Ankunft in Hawkeshayne kaum zwei Sätze mit ihr gesprochen hatte.
Matilda schmunzelte. „Sei unbesorgt, Rot ist nicht die richtige Farbe für dich.“ Sie hielt ein hellgrünes Kleid hoch. „Aber das gefällt mir für dich.“
„Es ist wunderschön.“ Emmeline kniete sich neben Mathilda und ließ die Finger über den kostbaren Stoff gleiten, der sich weich und geschmeidig anfühlte. „Aber es ist zu prächtig für mich.“
„Unsinn“, widersprach Matilda. „Du wirst heute als Heldin gefeiert. Das Festmahl findet dir zu Ehren statt. Die Bewohner von Hawkeshayne wollen sich bei dir bedanken und auf dein Wohl trinken.“ Sie begann die anderen Gewänder wieder in der Truhe zu verstauen. „Und auch Stephen will sich bei dir bedanken“, fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort. „Ich muss gestehen, ich habe ihn selten so guter Dinge gesehen.“ Sie lächelte, und ihre blauen Augen blitzten heiter.
„Die Ehre gebührt doch nicht nur mir“,entgegnete Emmeline und setzte sich auf den Boden. „Ohne Talvas hätte ich es nicht geschafft, das weißt du genau.“ Bei dem Gedanken an seine kraftvollen Arme, die sie nach ihrem Sprung in die Tiefe aufgefangen hatten, durchrieselte sie ein Prickeln. Sie krallte die Finger in den Seidenstoff.
„Ja, ich weiß.“ Matilda entzog ihr behutsam den Stoff und glättete die Seide. „Ihr zwei ergänzt euch ganz wunderbar. Du bist genauso mutig wie er.“
„Nein, ich bin nicht mutig.“
„Du bist die Felswand hinaufgeklettert und hast das Brunnenwasser unbrauchbar gemacht.“ Matilda tätschelte ihr den Arm. „Du bist eine ungewöhnlich tapfere Frau.“
Emmeline sah zu, wie Matilda ihre Kleider faltete und in die Truhe packte, und wollte das Thema wechseln. „Ich verstehe nicht, warum du so viele Kleider aus Winchester mitgebracht hast.“
„Ich fordere immer einen Ochsenkarren an …“ Matildas Blick suchte den der Freundin, „… oder zwei. Nur so sind die Strapazen einer Reise zu ertragen. Ich hasse Unbequemlichkeit.“
Emmeline lachte in Gedanken an das schmale Bündel, das sie an Bord ihres Schiffes gebracht hatte, das Untergewänder, ein Kleid zum Wechseln sowie ein praktisches wollenes Bliaut enthielt. Nach dem Schiffbruch waren ihr nur die Kleider geblieben, die sie am Leib getragen hatte. „Stephen scheint ein großzügiger Gemahl zu sein“, murmelte sie und dachte an die liebevolle Beziehung des Paares.
„Nein, das hat nichts mit Großzügigkeit zu tun, Emmeline“, widersprach Matilda ernsthaft. „Stephen respektiert mich und hört auf meinen Rat.“
„Du hast großes Glück. Solche Eigenschaften findet man selten bei einem Mann.“ Emmeline verschränkte die Finger.
„So selten auch wieder nicht, wenn man genau hinsieht. Und du musst nicht lange suchen, um einen solchen Mann zu finden.“
Emmeline fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Ich weiß Matilda, ich weiß.“
„Hat er noch einmal von Heirat gesprochen?“
Emmeline zupfte verlegen am Pelzüberwurf des Bettes. „Meine Meinung hat sich nicht geändert. Ehe bedeutet für mich Entmündigung, Abhängigkeit und Rechtlosigkeit, sie ist eine unerträgliche Beschneidung meiner Freiheit. Seit Giffards Tod ist meine Freiheit mein kostbarster Besitz. Sie bedeutet mir alles im Leben.“ Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.
„Ich frage dich noch einmal, Emmeline. Hast du den Eindruck, ich sei nicht frei oder Stephen unterdrückte mich?“
Matilda wollte ihr klarmachen, dass die Ehe sehr wohl eine gleichberechtigte Gemeinschaft zwischen Mann und Frau sein konnte.
„Nein, Matilda, du hast eine wunderbare Beziehung mit Stephen.“
„Und die kannst du auch haben, Emmeline, genau wie ich.“ Matilda tätschelte ihr die Hand.
„Wenn ich das nur wüsste! Es ist ein Risiko.“
Matilda lachte und richtete sich auf. „Du erstaunst mich, Emmeline. Das sagst ausgerechnet du, die sich bedenkenlos den größten Gefahren
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