Zwei Schritte hinter mir
Mütze ab. »Stephanie.«
Ich weiß nicht, ob es sein trauriger Blick war oder ob die Sorge im Gesicht meiner Mutter ansteckend war, aber ich bekam ein sehr ungutes Gefühl.
»Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für Sie, Trish«, sagte Chief Adderly. »Kann ich hereinkommen?«
Wie er erklärte und was auch die Verkehrsexperten später bestätigten, hatte mein Dad den fliegenden Reifen, der sein Auto traf, wahrscheinlich nicht gesehen, bevor es zu spät war, etwas zu tun. Er traf frontal auf die Windschutzscheibe meines Vaters und durchschlug das Glas. Der Wagen meines Vaters geriet außer Kontrolle. Der Wagen hinter ihm versuchte auszuweichen. Auch der Wagen in der Spur neben ihm geriet ins Schleudern. Hinter meinem Vater traten die Autofahrer auf die Bremsen. Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt.
Niemand außer meinem Vater.
Sein Wagen fuhr weiter, nachdem der Reifen durch die Windschutzscheibe gekracht war. Schließlich kam er rechts von der Straße ab und landete im Graben. Eine ganze Reihe von Fahrern riefen über ihre Handys den Notdienst. Die Polizei und die Sanitäter kamen. Sie brauchten drei Stunden, um meinen Vater unter dem Lkw-Reifen hervorzuholen. Aber das spielte keine Rolle mehr. Dem Pathologen zufolge hatte ihn schon der Aufprall umgebracht. Mein vorsichtiger Vater war tot und mein ganzes Leben veränderte sich.
8
Als ich in der fünften Klasse war, starb Megan Campbells Vater. Es war kein Unfall wie bei meinem Dad. Megans Vater hatte Krebs. Sie kam eine ganze Woche nicht zur Schule. Als sie wiederkam, hielt sie meist den Kopf gesenkt und blieb in den Pausen auf dem Spielplatz allein. Ich kannte sie nicht sehr gut, deshalb bin ich nicht zu ihr gegangen und habe mit ihr gesprochen. Nach ein paar Wochen sagte eines der Mädchen, mit denen ich herumhing: »Sie sollte langsam darüber hinwegkommen. « Ein anderes Mädchen meinte: »Er wäre doch sowieso gestorben.« Und nach einer Weile schien Megan tatsächlich darüber hinwegzukommen. Zumindest sah es so aus. Sie beteiligte sich wieder am Unterricht und verbrachte die Pausen und das Mittagessen mit anderen Mädchen. Sie schien wieder normal zu sein und nicht die arme traurige Megan. Ich hatte nie darüber nachgedacht, wie es bei ihr zu Hause gewesen sein musste, nachdem ihr Vater gestorben war. Eigentlich hatte ich nie auch nur einen Gedanken an sie verschwendet, bis
– nun bis mein Vater starb. Dann fragte ich mich: Hat Megan das auch durchgemacht? Hat sie sich so gefühlt?
Als Clark Adderly an diesem Abend unser Haus verließ, hatte ich das Gefühl, als hätte mir jemand das Herz aufgerissen und es mit all den Sachen voll gestopft, die nie jemand spüren wollte: Trauer, Schmerz, Kummer und Sorgen. Ich dachte, ich würde nie wieder aufhören zu weinen. Zwei ganze Wochen lang ging ich nicht in die Schule. Als ich wieder hinging, wollte ich mit niemandem reden – außer mit Allison. Vor dem ersten Läuten kam Cindy Houghton vor der Schule auf mich zu und sagte mir, wie leid ihr das mit meinem Vater tue. Und vor allen Leuten, die dort vor der Schule warteten, begann ich zu heulen. Danach kam niemand mehr auf mich zu. Es sprach überhaupt niemand mehr mit mir über meinen Vater. Wahrscheinlich hatten alle Angst, dass ich wieder zu heulen anfangen würde. Ich weiß nicht, was ich getan hätte ohne Allison, die die ganze Zeit zu mir hielt und nie genervt war, wenn ich anfing zu heulen.
Zu Hause war es auch nicht besser. Meine Mutter weinte – sie heulte nicht, sondern weinte – tagelang. Sie weinte, als Clark Adderly ihr die Nachricht überbrachte. Sie weinte die ganze Nacht. Sie weinte am nächsten Morgen, als ihre beiden besten Freundinnen kamen, um ihr bei den »Formalitäten« zu helfen. Bei der Beerdigung mussten sie sie stützen. In den nächsten
Wochen verlor sie unglaublich viel Gewicht. Sie aß kaum und konnte ohne starke Schlaftabletten nicht schlafen. Sie litt entsetzlich. Ich musste viel an Megan Campbell denken.
Später erfuhr ich von meinem Großvater, der zur Beerdigung gekommen war, dass nicht meine Mutter ihn meinetwegen angerufen hatte. Er war es gewesen, der sie angerufen hatte und ihr angeboten hatte, dass ich den Sommer bei ihm verbringen sollte. »Damit du wieder zu dir kommen kannst, Trish.« Zuerst weigerte sich meine Mutter. Sie wollte mich nicht allein dorthin schicken, aber ihre Freundinnen hielten es für eine gute Idee. »Nicht nur für dich, Trish, sondern auch für Stephanie. Auch sie leidet.
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