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Zwei Schritte hinter mir

Zwei Schritte hinter mir

Titel: Zwei Schritte hinter mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norah McClintock
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kann man sie roh essen.«
    »Igitt«, machte ich.
    Aber das war damals. Jetzt betrachtete ich jede Birke, an der ich vorbeikam, und fragte mich, ob Großvater die Wahrheit gesagt hatte oder ob er mich nur aufziehen wollte. Schließlich blieb ich stehen. Ich fuhr mit der Hand über die äußere Rinde einer jungen Birke.
Es stimmte, dass Großvater die Stille vorzog. Aber wenn er redete, erzählte er altmodische Witze oder lustige Geschichten über Menschen, die er gekannt hatte – meistens von Leuten, die er durch den Wald geführt hatte. Alle diese Geschichten, so lustig sie auch sein mochten, hatten eine Lehre und dabei ging es meistens darum, dass man vorsichtig sein musste, dass man auf alles vorbereitet sein und ruhig bleiben sollte – in anderen Worten, ums Überleben. Darüber machte Grandpa nie Witze.
    Ich holte das Metallbesteck aus der Tasche und klappte das Messer heraus. Es war nicht sehr scharf, aber durch festes Aufdrücken – so fest, dass sich der Griff in meine Handfläche bohrte – gelang es mir, zwei längliche parallele Schnitte in die Rinde zu machen. Dann setzte ich oben und unten zu zwei Querschnitten an und zog die äußere Rinde ab. Danach grub ich noch tiefer in den Baum hinein und zog ein Stück der hellen inneren Rinde heraus, das ich mir vor die Nase hielt und daran roch. Es roch nach Baum. Ich biss ein kleines Stück ab. Es war, wie wenn man in weiches, dünnes Leder biss. Sorgfältig kaute ich. Es schmeckte leicht süß, aber es war, als kaute man an der Sohle eines Ballettschuhs.
    Es dauerte ewig, bis es weich genug war, sodass ich es herunterschlucken konnte. Ich aß noch ein etwas größeres Stück. Mein Magen knurrte und grollte immer
noch, aber ich wollte lieber warten, um zu sehen, ob ich mich übergeben musste oder Magenkrämpfe bekam und mich vor Schmerzen krümmte.
    Nichts davon geschah.
    Ich schnitt weiter an der Birke herum und schälte noch mehr Rinde ab, die ich mir in den Mund steckte. Ich mühte mich eine gefühlte Ewigkeit ab, grub, schnitt und zerrte die ganze Zeit, bis das Knurren in meinem Magen aufhörte und ich noch ein paar Stücke Rinde in meiner Tasche behielt für später.
    Dann marschierte ich los.

    Ein paar Stunden später erreichte ich noch eine kleine Lichtung, blieb stehen, überprüfte noch einmal meine Richtung und ging dann weiter. Ich lief den ganzen Tag. Ich lief, bis die Sonne direkt vor mir unterging und mir bestätigte, dass ich in die richtige Richtung ging. Dann sah ich mich nach einem Platz zum Schlafen um.
    Dieses Mal fand ich keine Wiese, keine Lichtung und somit keine Gelegenheit, mehr Tau zu sammeln. Nachdem ich einen Pfeil aus Zweigen gemacht hatte, der nach Westen zeigte, damit ich mich am nächsten Morgen orientieren konnte, sammelte ich Armladungen von Kiefernnadeln als Unterlage zusammen. Darüber
legte ich die Plastikfolie und legte mich hin. Es war nicht annähernd so gemütlich wie mein Bett zu Hause, aber besser als der nackte Boden. Ich wickelte mich in die Decke, trank das letzte Wasser aus meiner Flasche und rollte mich so klein und unauffällig wie möglich zusammen.
    Sobald mein Körper nichts mehr zu tun hatte, begann mein Gehirn zu arbeiten. Würde mich heute Nacht ein Rudel wilder Wölfe finden? Würde mich ein Bär riechen und nachsehen wollen, was das war? War er da draußen und suchte nach mir?
    Wer war er überhaupt?
    Wie sah er aus? Womit verdiente er seinen Unterhalt? Hatten die Menschen, die ihn kannten, auch nur die leiseste Ahnung, dass er ein Doppelleben führte? Warum machte er das?
    Was genau hatte er mit den anderen Mädchen gemacht?
    Hätte ich nur auf meine Mutter gehört.
    Hätte ich nur getan, was sie mir gesagt hatte.
    Wäre ich nur nicht so wütend auf sie gewesen.
    Wenn meine letzten Worte zu ihr nur nicht so zornig gewesen wären.
    Als ich am Samstagmorgen das Haus verlassen wollte und sie mich gebeten hatte, vorsichtig zu sein, hatte ich sie angeschrien:
    »Ich hoffe, er kriegt mich! Ich hoffe er kriegt mich
und bringt mich um! Ich wäre lieber tot als dass ich dir und Gregg jede Nacht zuhören muss!«
    Meine Mutter war knallrot geworden und ich hatte einen wahren Siegesrausch verspürt. Ich hatte versucht, ihr wehzutun und das hatte ich geschafft. Bis jetzt war mir nicht in den Sinn gekommen, wie sie sich gefühlt haben musste, als ich das sagte, oder wie sie sich jetzt fühlen musste. Machte sie sich selbst für das verantwortlich, was mir passiert war? Gab sie sich die Schuld?
    Oder – da war es

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