Zwei Seiten
anderer beeinflussen kann.«
»Sprichst du von Macht?«
Ich schaute Julia einen langen Moment an. »So würde ich das nicht sagen. Wissen ist Macht. Fast jede Art von Wissen.« Ich lehnte mich zurück. »Das könnte man auch auf dich beziehen. Ich hab keine Ahnung von Medizin. Wenn jemand bei einem Autounfall schwer verletzt würde und ich Ersthelferin wäre …« Ich schüttelte den Kopf, bereute es aber, als mein Schädel wieder mit diesem penetranten Hämmern begann. »Du … du könntest ihn womöglich retten.« Meine Mundwinkel zuckten. »Wer hat mehr Macht? Derjenige, der Gesetze versteht und für sich zu nutzen weiß, oder derjenige, der Leben retten kann?«
Julia lehnte sich auch zurück und lachte. »Das klingt fast so, als würdest du glauben, ein Arzt hätte die Macht über Leben und Tod. Und das ist definitiv nicht so.«
Ich schmunzelte. »Aber du musst doch wohl zugeben, dass die Fähigkeit, Menschen zu heilen, einen in eine gewisse Position bringt.« Ich biss erneut von meinem trockenen Toast ab. »Ohne jetzt das Wort ›Macht‹ noch einmal zu bemühen.« Diese Unterhaltung machte mir merkwürdigerweise Spaß. Wer hätte das gedacht?
Julia schürzte die Lippen und beugte sich vor. Ihre Augen funkelten. »Wenn wir Moral und Ethik vollkommen außer Acht lassen würden, hättest du recht. Aber das ist etwas, was uns in unseren zukünftigen Berufen verbindet: Was wir wissen und was wir damit tun können, ist ebenso wichtig wie die Art, in der wir es nutzen. Moralisch und ethisch richtig oder eben falsch.«
Ich dachte eine Weile darüber nach. Meine Gedanken waren nach wie vor etwas schwerfällig. »Das trifft auf alles im Leben zu.«
Julia lachte. »Touché.«
Wir grinsten einander an.
»Sag mal, Scarlett, fängst du eigentlich immer nach einer durchzechten Nacht an, zu philosophieren? Falls ja, musst du mir das nächste Mal unbedingt Bescheid sagen.« Nach einer kurzen Pause fügte Julia hinzu: »Aber bitte erst, nachdem du deinen Mageninhalt losgeworden bist.«
Ich rollte mit den Augen. Abgesehen von ihrem absolut nicht witzigen Humor, war Julia eine interessante Gesprächspartnerin. Wenn ich doch nur vergessen könnte, dass sie …
»Was machst du denn hier?«
Mein Blick schnappte zur Küchentür.
Nathalie kam herein und glotzte zwischen uns hin und her.
»Guten Morgen. Äh, ich habe auf der Couch geschlafen, weil es gestern schon so spät war.«
Ich berührte Julia kurz am Arm. »Du brauchst nicht zu lügen.«
Nathalie riss die Augen auf, und alle Alarmglocken gingen in meinem Kopf an, als mir bewusst wurde, wie das geklungen haben musste.
»Ich … ich meine … oh, verdammt.« Ich musste diese Sache klarstellen, bevor Nathalie dachte, ich und Julia … »Es hatte nichts mit der Uhrzeit zu tun. Die Wahrheit ist, ich habe mich übergeben und Julia hat was abbekommen. Ich hab ihr deshalb was zum Anziehen gegeben. Aber mit den dünnen Klamotten konnte sie nicht rausgehen, also schlief sie auf der Couch. Und … und gerade hat sie Frühstück gemacht, und jetzt waren wir am Essen, und gleich ruft sie Oliver an, damit er ihr Sachen vorbeibringt.« Ich war ganz außer Atem, weil ich so schnell gesprochen hatte. Hoffentlich hatte Nathalie trotzdem alles verstanden.
Die schmunzelte und tätschelte Julia die Schulter. »Dann weiß ich ja jetzt Bescheid.« Grinsend verließ Nathalie die Küche.
Julia hielt sich die Hand vor den Mund.
»Das ist nicht witzig.« Ich schaute sie mit zusammengekniffenen Augen an und nahm einen Schluck Kamillentee.
»Doch.« Julia lachte laut los.
* * *
»Er klang furchtbar. Schätze, er hat einen ziemlichen Kater«, sagte Julia, nachdem sie Oliver angerufen hatte.
»Da ist er nicht allein.« Ich schloss kurz die Augen und rieb mir die Schläfen.
»Nur mit dem Unterschied, dass er es verdient hat, sich schlecht zu fühlen«, sagte Julia.
Ich zuckte mit den Schultern. »Wir sind nicht zusammen. Er kann machen, was er will.«
»Ihr wart dabei, zusammenzukommen. Er hat nach Daniels Geburtstagsparty die ganze Zeit von dir gesprochen. Ich dachte wirklich, er hätte sich in dich verliebt.«
»Sag mal, verhält er sich öfter so?«
»Absolut nicht.« Julia schüttelte den Kopf. »Ich konnte es nicht fassen, als Daniel mir erzählte, was passiert war. Erst ist er total nervös, erzählt mir, wie toll er dich findet, und trinkt sich auch noch Mut an, und dann … so was.«
Vielleicht hatte Anja sich wirklich im falschen Augenblick an ihn ran gemacht. Und was,
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