Zwei Seiten
konnte ich das am diplomatischsten ausdrücken? »Dass Julia nicht … normal ist.«
Oliver neigte den Kopf zur Seite. »Nicht normal?«
Es war so süß, wenn er das tat. Er sah dabei fast wie unser Familienhund Popeye aus. Oh, stopp mal. Upps, das war wohl doch nicht nicht so diplomatisch gewesen. »Ähm, ich meine …«
»Du meinst, als sie sich geoutet hat?«
Ich nickte. »Ja, genau.«
»Als sie mir vor sechs Jahren sagte, sie sei lesbisch, war das schon hart. Ich meine, nicht wegen ihrer sexuellen Orientierung, sondern weil ich Julia an dem Tag hab weinen sehen. Zum ersten Mal, seit sie sich mit sieben Jahren das Knie an einer Rutsche aufgeschlagen hatte.« Oliver ließ den Atem laut entweichen. »Sie sagte mir, sie wolle diese Gefühle nicht haben, und sie wünschte sich so sehr, Männer attraktiv zu finden. Ich sagte ihr, es sei doch scheißegal, ob sie Männer oder Frauen attraktiv findet. Hauptsache, sie sei glücklich damit.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Was sollte ich auch sonst sagen?«
»Heißt das, es war für dich von der ersten Minute an in Ordnung, dass sie lesbisch ist?«
Oliver zuckte mit den Schultern. »Merkwürdig war es natürlich schon.« Er grinste mich an. »Aber es war auch irgendwie cool, nachdem ich mich dran gewöhnt hatte und wir merkten, dass wir einen ähnlichen Geschmack haben. Also was Frauen betrifft.«
Ich musste schlucken. Hoffentlich hieß das nicht, Julia fand mich auch …
»Nachdem sie sich mir anvertraut hatte, waren wir noch unzertrennlicher als zuvor. Sie wurde von einigen Mitschülern ziemlich fertiggemacht.« Er lachte humorlos. »Man möchte meinen, wir leben in einer toleranten Gesellschaft, aber Julia hat davon nicht viel mitbekommen.«
»Was heißt ›ziemlich fertig‹?«
Olivers Gesichtszüge verdunkelten sich. »Dumme Kommentare, Beschimpfungen, so was halt. Aber«, er holte tief Luft, »das war nichts im Vergleich zu dem, was ein paar Monate nach ihrem Outing passierte.«
»Warum hat sie es denn an die große Glocke gehängt?«
Olivers Blick schien mich für einen Sekundenbruchteil zu durchbohren. »Ich riet Julia, sich nicht zu verstellen und offen damit umzugehen. Sie trug einen Regenbogen-Pin und schnitt sich sogar ihre Haare ab, um ihrer Lieblingssängerin ähnlicher zu sehen.«
»Lieblingssängerin?«
»K.D. Lang.«
Nie gehört. »Aha.«
»Weil meine Eltern sie nicht alleine gehen lassen wollten, hab ich sie sogar in einige Szeneclubs begleitet.«
Meine Kinnlade fiel runter. Oliver war in diese Perversenclubs gegangen? »Na wenigstens war sie da unter Gleichgesinnten.«
Oliver lächelte mich verkrampft an. »Es war das dritte oder vierte Mal überhaupt, dass wir in einem Club für Lesben und Schwule waren, als Julia …« Olivers Blick verfinsterte sich. »Während ich unsere Jacken von der Garderobe abholte, war sie schon vorausgegangen.« Seine Augen blitzten auf. »Beim Rausgehen wurde sie von einer Gruppe Männer angegriffen. Sie beschimpften und bespuckten Julia, warfen sie zu Boden und traten mehrfach auf sie ein.« Olivers Gesicht wurde kreideweiß. »Ich … kam zu spät.«
Oh Gott. Wollte ich wirklich mehr hören?
»Die Türsteher des Clubs sahen Gott sei Dank, was los war, und kamen ihr zu Hilfe. Aber Julia hatte trotzdem ganz schön was abbekommen.«
»W… wie schlimm war es?«
»Sie war fast eine Woche im Krankenhaus.« Oliver ballte die Hände zu Fäusten. »Julia hatte eine schwere Gehirnerschütterung, weil die mehrfach auf ihren Kopf eingetreten hatten, als sie am Boden lag. Außerdem war eine ihrer Nieren geprellt und zwei Rippen waren angeknackst.« Oliver knirschte mit den Zähnen. »Die haben diese Schweine nie gekriegt.« Seine Stimme zitterte und eine seiner Halsvenen hämmerte deutlich sichtbar unter der Haut.
Ich hatte einen dicken Kloß im Hals und meine Augen brannten.
»Sie war danach in Therapie, weil sie Angst hatte, rauszugehen.« Oliver starrte mich an. »Nach dieser Sache zog sie sich total von mir zurück.«
Ich fühlte mich auf einmal wie das größte Arschloch auf Gottes Erdboden. Es war zwar falsch, wie Julia lebte, aber das hatte sie nicht verdient. Der Gedanke an Olivers Schwester, wie sie verletzt am Boden lag, fügte mir fast körperlichen Schmerz zu. Ich schloss die Augen, als ob ich dadurch dieses Gefühl aussperren könnte.
Oliver umarmte mich. »Keine Sorge. Mittlerweile ist alles wieder wie vor dem Angriff. Also zwischen ihr und mir.«
Ich öffnete die Augen wieder und rang mir
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