Zwei Seiten
bist du unschlagbar.«
Ich schürzte die Lippen. »Soll das heißen, du denkst, ich lasse mich mehr von Gefühlen als von meinem Verstand leiten?«
Julia zuckte mit den Schultern. »Du kannst schnell Entscheidungen treffen, die sich in der Regel vom Kopf her begründen lassen, obwohl sie eigentlich aus dem Bauch heraus getroffen wurden.« Julia schaute mich einen langen Moment an und biss sich auf die Unterlippe, bevor sie sagte: »Oft triffst du auch Entscheidungen, die in Wahrheit nicht unbedingt logisch sind, sondern bloß dem Ausweichen von Gefühlen dienen.«
In meinem Kopf drehte es sich. Wie kam sie denn darauf? Sollte ich mich jetzt angegriffen fühlen?
»Scarlett?«
Ich blickte auf.
»Habe ich was Falsches gesagt?«
»Ich weiß nicht. Findest du wirklich, dass ich meinen Gefühlen aus dem Weg gehe?«
Julia ergriff meine Hand. »Vielleicht hätte ich meine Worte vorsichtiger wählen sollen. Am Ende weißt nur du, was in dir vorgeht. Aber ich denke, du machst es dir selbst oft schwerer, als es sein müsste.«
»Und wo zum Beispiel?«
Julia öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Schließlich sagte sie leise: »Manchmal scheinst du nicht nachzudenken und lässt dich gehen und bist ausgelassen. Dann wirst du plötzlich wieder ganz ernst. So als ob du auf einmal merken würdest, dass du dich für einen Moment nicht unter Kontrolle hattest.«
»Konkreter. Ich will ein Beispiel.«
Julia senkte den Blick. Nach einer Weile grinste sie mich an. »IKEA, letzten Monat.«
»Hä?«
»Du bist von Couch zu Couch geeilt und hast dich zurückfallen lassen und bist mit dem Hintern auf und ab gesprungen.«
»Ich habe die Federungen ausprobiert«, sagte ich.
Julia kicherte. »Du hast ›hui‹ gerufen. Und dann wurdest du schlagartig wieder ganz ernst und hast dich nur noch still auf die nächsten Sofas gesetzt.«
»Die Leute gafften mich an.« Während ich es sagte, verstand ich auf einmal, was Julia meinte. Aber es steckte mehr dahinter. »Es geht um Erwartungen.« Ich sprach mehr zu mir selbst als zu Julia. »Meine eigenen und die Erwartungen anderer. Ich will es immer allen recht machen.«
Julia streichelte mit dem Daumen über meine Hand.
Ich schaute mich um und mindestens ein Paar am Nachbartisch starrte auf unsere Hände. Im ersten Moment wollte ich meine Hand wegziehen, aber dann stoppte ich. Herr Gott, ich kannte diese Leute nicht einmal. Was scherte es mich, was die dachten? Ich ergriff Julias Hand und wendete den Blick von den Leuten ab. Sollten die doch denken, was sie wollten.
* * *
Ich holte tief Luft und ließ den Atem laut entweichen. Das Telefon in meiner Hand schien viel schwerer als sonst, aber ich musste das tun. Es gab keine Alternative oder ich würde noch verrückt werden.
Ich tippte die Nummer von der Beratungsstelle, die rot unterlegt hervorstach, vom PC-Bildschirm ab. Das erste Freizeichen ertönte und mein Herz hämmerte wie wild.
Nach wenigen Momenten wurde abgenommen und ein relativ jung klingender Mann murmelte etwas mir Unverständliches.
»Äh, hallo. Mein Name ist Scarlett Winter. Ich … ich würde gerne mit jemandem sprechen.«
»Und worum geht es bei Ihnen?«
»Tja, wo fang ich an? Ich habe ein Problem. Äh, ich habe Gefühle, mit denen ich nicht klarkomme. Ich möchte sie loswerden.«
»Sind es Gedanken, sich etwas anzutun?«
Ich starrte auf den Hörer. Anschließend führte ich ihn wieder zum Ohr. Klang ich so verzweifelt? »Äh, nein. Eigentlich nicht. Es geht mehr um … ja, wie sag ich das am besten? Ich fühle etwas für jemanden, aber das darf nicht sein.«
Stille.
Dann: »Sprechen Sie von Gefühlen für ein Kind oder einen Minderjährigen?«
Verdammt, was für Leute riefen da sonst an, dass er auf solche Sachen kam? »Nein. Es geht um … um meine Mitbewohnerin.«
»Und warum dürfen diese Gefühle nicht sein?«
Meine Güte, wie sollte ich das erklären und noch dazu am Telefon? Musste ich das überhaupt? »Kann ich nicht mit jemandem persönlich sprechen?«
»Wann hätten Sie Zeit?«
»In der Regel nachmittags.«
»Ginge es morgen um siebzehn Uhr?«
»Ja.«
* * *
Ein Blick auf meine Armbanduhr verriet, es war kurz vor fünf. Seit etwa einer Viertelstunde saß ich jetzt schon alleine im Warteraum der Beratungsstelle. Komisch, ich hätte schwören können, es wäre schon mindestens eine Stunde vergangen. Als die Tür aufging, zuckte ich zusammen.
»Frau Winter?«
Ich war die Einzige hier. Wer sollte ich sonst sein? »Ja.«
»Ich bin Susanne
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