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Zwei Seiten

Zwei Seiten

Titel: Zwei Seiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Grey
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will ich Julia küssen. Wenn wir kuscheln, uns an den Händen halten oder uns auf die Wange küssen, wünschte ich mir oft …« Ich musste schlucken. »Ich wünschte mir oft, es wäre mehr.« Zögerlich hob ich den Kopf und sah Frau Lindner in die Augen. Doch es war unmöglich, etwas darin zu lesen.
    »Und dieser Wunsch beunruhigt Sie.« Es war eine Feststellung, keine Frage.
    Was für eine Untertreibung. »Ich bin heterosexuell. Warum will ich also mehr?« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
    »Und was wäre, wenn Sie bisexuell oder lesbisch wären?«
    Mein Mund klappte auf. »Das bin ich aber nicht.«
    »Und was wäre, wenn?«
    »Ich bin an Frauen nicht interessiert. Nicht … so.«
    Frau Lindner verlagerte ihr Gewicht im dadurch leise knarrenden Holzstuhl. »Sie sind hier und erzählen mir, dass Sie sich wünschen, mehr mit, äh, Julia zu machen. Also haben Sie zumindest an einer Frau Interesse.«
    Sie drehte mir die Worte im Mund um. »So ist das nicht.«
    »Wie ist es dann?«
    Ich seufzte laut. Was war denn daran so schwer zu verstehen? »Ich möchte diese Gefühle nicht. Sie sind nicht wirklich meine. Ich bin nur verwirrt und brauche Ihre Hilfe, diese Gefühle wieder loszuwerden.«
    Frau Lindner schwieg und betrachtete mich. Irgendwann beugte sie sich vor. »Sie meinen, wie ein Exorzist?«
    Was für ein dämlicher Vergleich. »Können Sie mir helfen oder nicht?«
    »Wir können uns Ihre Gefühle näher ansehen, damit Sie sie besser einordnen können.«
    »Ist das ein ›ja‹?« Diese Frau war wohl kein simpler Ja/Nein-Typ.
    Frau Lindner griff in ihre Hosentasche und holte ein Minzbonbon heraus. »Möchten Sie auch eins?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    Sie steckte sich die Süßigkeit in den Mund und lutschte darauf herum. Nach einer Weile schaute sie mich ernst an. »Darf ich hundertprozentig ehrlich sein?«
    Diese Frage war nie ein gutes Zeichen. Mein Magen fühlte sich an, als wäre er mit Blei gefüllt. Widerwillig nickte ich. Was sollte ich auch sonst tun?
    »Ich weiß kaum etwas über Sie und Ihr Leben, aber von dem, was Sie mir bisher erzählt haben, glaube ich nicht, dass Sie heterosexuell sind.«
    Ich öffnete den Mund, um zu protestieren, doch Frau Lindner redete weiter: »Sie empfinden offenbar für diese Julia mehr als nur Freundschaft. Von dem, was Sie mir über Ihre Mutter erzählt haben, vermute ich, der Grund für Ihre Zurückhaltung und Unsicherheit bezüglich Julia liegt in Ihrer Kindheit begründet.«
    Diese Frau war definitiv eine Psychologin. Immer war die Kindheit schuld.
    »Meine Kindheit war vollkommen normal. Und ich bin hundert Prozent heterosexuell.«
    »Warum fühlen Sie dann etwas für Julia, das über eine platonische Freundschaft hinausgeht?«
    »Tu ich doch gar nicht. Ich bin bloß etwas durcheinander, das ist alles.« Konnte oder wollte sie das nicht verstehen?
    »Und warum sind Sie durcheinander?«, fragte Frau Lindner. »Was denken Sie?«
    Wir drehten uns hier im Kreis. Dieses Gespräch brachte mich nirgendwohin. »Gerade jetzt bin ich durcheinander, weil Sie mich durcheinanderbringen.«
    »Okay, lassen Sie uns das Ganze mal umdrehen.«
    Ich betrachtete Frau Lindner misstrauisch.
    »Ich komme zu Ihnen und erzähle, dass ich meine Mitbewohnerin küssen möchte. Was würden Sie als Erstes denken?«
    Was würde ich denken? »Ich weiß nicht.«
    »Wirklich nicht?«
    Ich schüttelte den Kopf. Keine Ahnung.
    »Sie würden sich doch sicher fragen, warum ich meine Mitbewohnerin küssen möchte.«
    Ja, wahrscheinlich. Ich nickte.
    »Irgendeinen Grund muss es schließlich geben.«
    Ich nickte erneut.
    »Was für Gründe könnte es denn da geben?«
    Ich zuckte mit den Schultern, dachte aber darüber nach. »Vielleicht einfach nur Neugier.«
    »Vielleicht«, sagte Frau Lindner. »Und was könnte es sonst noch sein?«
    Meine Gedanken kreisten um die Möglichkeiten, und was mir in den Kopf kam, gefiel mir gar nicht. Konnte es sein, dass ich an Julia in einer mehr als freundschaftlichen Art interessiert war? »Ich will das nicht«, flüsterte ich, während ich das Gesicht in meinen Händen vergrub.
    »Was wollen Sie nicht?«
    Tränen liefen mir die Wangen runter. »Ich will für Julia nicht solche Gefühle haben. Ich will für keine Frau so empfinden. Ich bin heterosexuell.« Beim letzten Satz stampfte ich mit dem Fuß auf den Boden.
    »Warum wollen Sie das nicht?«
    Mit verweinten Augen sah ich Frau Lindner an, die unverändert ruhig in ihrem Stuhl saß und ihr verdammtes Bonbon

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