Zwei Seiten
lutschte.
Wie konnte ich es dieser Frau begreiflich machen? »Ich will nicht eine von denen sein. Verstehen Sie denn nicht? Ich bin normal. Jeder hat eine Wahl, was er oder sie tut. Ich auch. Und … und außerdem fühle ich nicht so was für Julia.« Oh Gott. Es war eine Lüge. Alles war eine Lüge. Ich war in Julia verliebt. Mein Brustkorb war so sehr zusammengeschnürt, dass ich das Gefühl hatte, keine Luft zu bekommen. »Ich liebe sie«, sagte ich weinend und schnappte mir eines der Kosmetiktücher aus der Box auf dem Tisch. Dabei mied ich den Blick von Frau Lindner. Ich schämte mich zutiefst. Laut schnäuzte ich mir die Nase.
Für eine Weile war mein lauter Herzschlag das einzige Geräusch.
Bis Frau Lindner sich vorbeugte und mir den Arm tätschelnd sagte: »Derzeit ist alles verwirrend und wahrscheinlich schmerzhaft. Aber Sie haben heute einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung getan.«
Ich sah sie skeptisch an. Wenn das der richtige Weg war, warum fühlte es sich dann so falsch an?
Kapitel 21
Dicke Regentropfen prasselten auf mich herab. Der Wind schien meine Jacke ohne Widerstand zu durchdringen. Es war dunkel. Ich fror. Dennoch stand ich wie festgenagelt auf dem Bordstein und starrte auf die Eingangstür meines alten Zuhauses. Nur ein paar Schritte. Dann klingeln und meine Mutter würde vor mir stehen. Und was passierte danach? Was sollte ich ihr sagen? Warum war ich überhaupt hier?
Obwohl Mamas Haus in der entgegengesetzten Richtung zu meiner Wohnung lag und das Wetter heute furchtbar war, hatten mich meine Beine nach dem Gespräch mit Frau Lindner hierhingebracht. Und nun?
Ich holte tief Luft und beobachtete, wie mein zittriger Atem in einer kleinen weißen Wolke meinem Mund entwich.
Genug. Ich hatte mich belogen. Mich und den Rest der Welt. Wie meine Mutter hatte ich ein Leben geführt, das nicht mein eigenes war. Bis jetzt. Gab es noch Hoffnung für mich? Was sollte ich tun?
»Oh Gott, Kind, was machst du denn hier? Komm rein«, rief Mama, als sie mit Regenschirm und Mülltüte in der Hand die Haustür öffnete.
Meine Füße setzten sich ohne mein Zutun in Bewegung.
Wenige Augenblicke später umarmte mich meine Mutter. »Himmel, Scarlett, du bist ja eiskalt. Geh hoch und dusch erst mal heiß. In deinem Schrank sind ein paar alte Klamotten von dir. Ich bring den Müll eben weg, dann mach ich dir einen heißen Tee.«
Ich nickte und tapste wortlos die Treppen hoch.
* * *
Meine Hände und Füße brannten immer noch, als ich mich mit frisch gewechselten Klamotten und getrockneten Haaren auf die Couch im Wohnzimmer setzte. Popeye begrüßte mich schwanzwedelnd und nasestupsend. Ich kraulte ihn hinter den Ohren und lehnte mich dann seufzend zurück.
Links von mir saß meine Mutter im Sessel und schlürfte Pfefferminztee.
Mir war mein Tee zu heiß. Daher ignorierte ich ihn vorerst und schloss die Augen. Warum war ich hierhergekommen? Mein altes Zuhause fühlte sich fremd und unwirklich an. Nichts war mehr wie zuvor.
»Scarlett, was ist los mit dir?«
Ich hob den Kopf und betrachtete Mama, wie sie ihren Tee wegstellte und Popeye auf den Schoß nahm. Sie sah aus wie immer, aber ich hatte das Gefühl, sie nicht mehr zu kennen. Oder kannte ich mich selbst nicht mehr? Verdammt, was war bloß los mit mir? »Ich liebe Julia.« Ich riss die Augen auf. Hatte ich das laut gesagt?
»Ich weiß, mein Schatz.« Mit langsamen, gleichmäßigen Bewegungen streichelte sie den fast wie eine Katze schnurrenden Popeye.
Mein Mund klappte auf. Aber es kam kein Ton heraus.
»Wenn du Julia ansiehst oder von ihr sprichst, leuchten deine Augen. Du wirkst lockerer als früher und lächelst öfter, seit du sie kennst. Und du scheinst nicht mehr so verschlossen zu sein.« Meine Mutter lächelte. »Sie tut dir gut.«
»Du … du findest das nicht schlimm?«
Mama schaute mich ernst an. »Du bist meine Tochter. Ich liebe dich. Nichts auf der Welt ist mir so wertvoll wie du.«
Ich sprang auf und Popeye schwanzwedelnd mit mir. Kaum war er von meiner Mutter heruntergesprungen, schlang ich die Arme um sie. »Ach, Mama.« Ich begann zu weinen.
Meine Mutter stand auf und hielt mich ganz fest. Ihre Hand streichelte meinen Rücken. »Alles wird gut werden. Das verspreche ich dir.«
Einander immer noch haltend, bewegten wir uns zur Couch und nahmen zusammen Platz.
Winselnd stupste Popeye mit der Nase gegen mein Bein.
»Popeye, geh auf deine Decke«, sagte meine Mutter in einem autoritären Tonfall.
Keine Ahnung,
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