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Zwei Sommer

Zwei Sommer

Titel: Zwei Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Keil
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grüne Kerbe. Dort also hat unser Schiff den Eisberg gerammt.
    »Olli?« Ich hebe den Kopf und suche seinen Blick.
    Ollis Augen schauen nicht mich an, sondern die Scherben auf seinem Teppich. Da klingelt mein Handy.
    Olli schaut alarmiert auf.
    Ich hole das Handy aus meinem Rucksack, schaue aufs Display und kriege Gänsehaut. Marie. Natürlich.
    Ich lasse es klingeln und stecke das Telefon zurück in den Rucksack. Dort klingelt es weiter, nur leiser. Als ob es mich anschreit, und ich halte mir die Ohren zu. In diesem Moment weiß ich, dass ich nicht mehr zurückwill. Dass ich mit Olli zusammen sein will. Gedämpft dringt das Klingeln an mein Ohr, bis meine Mailbox mich erlöst.
    Was sollte ich ihr sagen? Dass es mir leidtut? Wäre das nicht fast schon wieder gelogen? Dass es mir wehtut? Ja schon, aber lindert das ihren Schmerz? Dass ich sie nicht verlieren will? Wie käme ich dazu, mir je wieder irgendetwas von ihr zu wünschen?
    »Was denkst du?«, frage ich schließlich vorsichtig in Richtung Schreibtisch, ohne Olli anzusehen. Die Stille in diesem Zimmer zu durchbrechen kostet mich unendlich viel Kraft. Es ist, als wäre Marie noch immer hier. Es ist, als würden tausend kleine Maries aus grünen Augen vom Teppich zu uns hinaufblitzen. Beim Anblick der Scherben kann ich ihren Schmerz förmlich spüren, also schaue ich nicht hin.
    Das da auf dem Boden ist zweifellos unser Werk. Vor neun Tagen haben Olli und ich Maries Bild das erste Mal gegen die Wand geworfen. Jeder Kuss, den wir uns seitdem gaben, ist eine Scherbe.
    »Ich wollt nicht, dass sie’s so erfährt.«
    »Ich auch nicht.« Meine Stimme versagt und ich lasse mich wieder vor Olli auf den Boden plumpsen.
    Er nimmt mein Gesicht in seine Hände und sieht mich an. Endlich. Er beugt sich zu mir herunter und küsst meine Stirn.
    Seine Lippen! So weich. Mein Herz schlägt, als sei es ihm viel zu eng da in meiner Brust. Olli küsst mich auf die Nase, auf die Wange und ich spüre, wie unter seinem warmen Atem jeder Muskel meines Körpers zusammenzuckt. Ich schließe die Augen und lasse es geschehen, fühle, wie unsere Lippen einander suchen, zögernd und ungeduldig zugleich, und einander finden, in begieriger Vorsicht.
    Wir liegen nebeneinander, ich fühle seine Hände meinen Rücken entlangstreicheln, spüre seine warme weiche Haut unter meinen Fingern, küsse mich seinen nackten Bauch entlang zu seinem Hals hinauf, lausche seinem Atem an meinem Ohr und bekomme überall Gänsehaut, fühle, wie sich seine warmen Lippen Kuss um Kuss meinen Brüsten nähern. Es ist wie eine einzige wunderbare Berührung und zum ersten Mal habe ich keine Angst davor.
    »Wenn ich Ihnen schon keine Geschichten entlocken kann, vielleicht haben Sie es eher mit Zahlen?«
    Zeisig sieht Marie aus seinen Eisaugen von der Seite an, als wäre sie eine Mordverdächtige im Kreuzverhör. »Thesenanschlag?«
    Ich kritzle die Jahreszahl auf ein Stück Papier.
    Zeisig ist immer so auf seine Angeklagten fixiert, dass er die Geschworenen vergisst. Mich sowieso. Ich bin eine Null in Geschichte und im Unterricht meistens unauffällig. Dass ich mich mal zu Wort melde, kommt eher selten vor, und dass ich meinen höchst gebrechlichen Schulabschluss für Aktionen wie diese gefährde sowieso.
    Das sei der Bonus blond gelockter Mädchen, fand Marie. Man traut ihnen zwar Intrigen zu, aber keine intelligenten. Marie war es auch, die mich darauf aufmerksam gemacht hat, welche Macht sich dahinter verbirgt, permanent unterschätzt zu werden. Ausgerechnet sie.
    Und Marie? Marie, die Kluge, die Wortgewandte? Marie starrt unentwegt auf den Fußboden.
    Ich schmiere Zahl um Zahl in meinen Block, aber sie will sie nicht sehen. Sie sieht mich einfach nicht an. Nicht mehr.
    Sie will meine Hilfe nicht.
    Wie es aussieht, will sie heute mit wehenden Fahnen untergehen. Das ist so eine Angewohnheit von ihr. Die Liebe zum Extrem. Und aus dieser Veranstaltung mit einer Drei rauszugehen, grenzt quasi schon an Hochverrat. Marie will scheitern oder siegen. Bloß kein Mittelmaß. Und ich kann sie sogar verstehen. Alles oder nichts. Vielleicht verstehe ich das zum ersten Mal so richtig.
    »Verstorben?«, schnarrt Zeisig.
    Ich möchte ihm am liebsten seinen speckigen Hals rumdrehen. Marie hingegen scheint endlich aus ihrem unerträglichen Koma erwacht zu sein. Der Blick jedoch, den sie entsetzlich gemächlich über unseren Köpfen auskippt, ist kalt. Was habe ich erwartet? Ich weiß, woran sie denkt.
    »Guillotine.« Aus ihrem Mund

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