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Zwei Sommer

Zwei Sommer

Titel: Zwei Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Keil
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»Also wenn du mich fragst – Marie wäre echt okay, wenn sie nicht immer so krasses Zeug von sich geben würde. Ätz, ätz, ätz.«
    Ich weiß nur allzu gut, was Toni meint. »Es ist ihre absolute Lieblingsbeschäftigung, Dinge scheiße zu finden«, höre ich mich sagen.
    »Und deine Lieblingsbeschäftigung ist es, in ihrem Schatten rumzulaufen.«
    »Was?« Mir bleibt fast der Karamellkeks im Hals stecken.
    »Merkst du das nicht? Du behandelst Marie wie eine Heilige! Du denkst immer, alles, was sie tut, ist cool. Aber das ist Bullshit! Klar, sie ist deine beste Freundin, aber das gibt ihr noch lange nicht das Recht, dir ständig auf der Nase rumzutanzen.« Toni gerät richtig in Fahrt. Mir kommt es langsam so vor, als hätte sie diese Ansprache schon seit Längerem vorbereitet. »Marie ist der Nabel ihrer Welt. Alles dreht sich immer nur um sie. Voll die Egoistin.« Pause. »Aber das rechtfertigt noch lange nicht, dass du sie so verarschst.« Sehr lange Pause.
    Den Weg nach Hause gehe ich zu Fuß. Nach meiner Unterhaltung mit Toni muss ich meinen Kopf dringend durchlüften. Außerdem muss ich mir für heute Abend noch einen Vorrat Sauerstoff anlegen. Für mein klärendes Telefonat mit Olli werde ich sehr viel Luft brauchen.
    Mein Handy klingelt. Oh nein. Die Sache mit dem Sauerstoffvorrat hat sich soeben erledigt.
    »Wo warst du?«, überspringe ich die Begrüßung. Das nenne ich mal »auf den Punkt kommen«!
    »Das weißt du doch.«
    »Du warst die ganze Nacht bei ihr!«, brülle ich ins Telefon und ernte Schweigen.
    »Prinzessin«, höre ich es schließlich am anderen Ende und spüre, wie es mich ein bisschen aufweicht.
    »Es war ein total krasser Abend.« Olli klingt wirklich erschöpft. »Wir haben uns die ganze Nacht gezofft. Marie war völlig fertig.« Schweigen am anderen Ende. »Ich konnte es ihr nicht sagen.«
    »Du wirst es ihr nie sagen!«, schluchze ich. Die ewige Geliebte hockt sich in den nächstbesten Hauseingang, weil ihr schwindlig wird.
    »Als ich ihr gesagt habe, dass ich gehe, ist sie total durchgedreht. Sie hat alle möglichen Sachen nach mir geschmissen und am Ende hat sie keine Luft mehr gekriegt vor lauter Heulen. Sie saß vor ihrer Anlage und hat dieses eine Lied rauf- und runtergehört und vor sich hin gestarrt und ich dachte, die tut sich vielleicht was an, wenn ich gehe. Sie hat mir leidgetan, sonst nichts. Ich schwör’s.«
    Ich habe einen Riesenkloß im Hals. Ich sehe Marie vor mir, wie sie mal wieder stinksauer ist und ihre Giraffe gegen die Wand wirft und danach in Tränen ausbricht, weil sie glaubt, dies sei die größte Gemeinheit, zu der sie imstande ist. Und ich sehe Olli, der sie in den Arm nimmt, nicht, weil er sie liebt, sondern weil er sie nicht mehr liebt.
    Genau genommen sind er und ich in derselben Situation: Wir fühlen uns schuldig an ihrem Schmerz und sind zugleich die einzigen beiden Menschen, die ihn nicht lindern können. Wir sind nicht mehr die Guten in diesem Film, und wir sollten beide endlich damit aufhören, uns etwas anderes einzureden.
    Ein widersinniges Gefühl von Glück breitet sich in mir aus. So muss es sich anfühlen, wenn man anfängt, verrückt zu werden. Fehlen nur noch die Stimmen in meinem Kopf.
    »Prinzessin?«, höre ich eine Stimme. Aber die gehört Olli, und der ist echt.
    »Wir müssen es ihr sagen«, flüstere ich und spüre in derselben Sekunde, dass ich sie verlieren werde.
    Über Nacht hat mich mein Mut verlassen. Nicht einmal meine Wut auf Marie, die ich so sehr gebraucht hätte, ist mit mir zur Bushaltestelle gekommen. Es wäre mir leichter gefallen, ihr die Wahrheit zu sagen, hätte mich irgendein noch so abwegiger Gedanke von Gerechtigkeit dabei begleitet.
    Es ist ein ungewöhnlich kühler Morgen. Marie ist fast unter der Kapuze ihres Pullovers verschwunden. Zwei glänzende grüne Augen schauen aus einem blassen Gesicht darunter hervor. Sie sieht müde aus. Sie sieht ganz und gar nicht mehr aus wie das Mädchen, über das ich gestern geschimpft habe.
    Zwischen ihrem »Hi« und »Scheißwetter« und »Bin froh, wenn Ferien sind« liegen kleine Ewigkeiten, die ich meinerseits mit Nonsens fülle. Wir steigen in den Bus und ich frage mich, wie verdächtig sie es wohl findet, dass ich sie weder auf ihre Augenringe noch auf ihre Schweigsamkeit anspreche. Doch wie sollte sie Verdacht schöpfen?
    Bei diesem Gedanken kriege ich allerdings Gänsehaut: Sie vertraut mir. Ich belüge sie. Und wie lange ist es her, dass ich mir selbst vertraut habe.

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