Zwei Sonnen am Himmel
gedankenverloren und ehrfurchtsvoll betrachtete.
»Es ist eine lange Geschichte«, sagte er schlieÃlich.
»Du weiÃt, dass seit der Gründung von Atlantis fünf Könige und fünf Königinnen herrschten. Jeder von ihnen überlieferte seinem ältesten Nachkommen das Geheimnis einer Pflanze, die auf dem südlichen Hang des heiligen Vulkans wächst. Einmal im Jahr, in der Zeit der Frühlings-Tagundnachtgleiche, wurde diese Pflanze von den Priesterinnen gepflückt. Sie wurde zu Pulver zerrieben und in den Wein gemischt, den die jeweiligen Herrscher tranken. Dieser Trunk bewirkte, dass sich ihr Blut auf wunderbare Weise erneuerte. Die Jahre gingen dahin, doch ihre Gestalt bewahrte ihre Geschmeidigkeit, ihre Züge ihre Schönheit. Ihre Muskeln blieben stark und elastisch, ihre Haut behielt ihr frisches, glattes Aussehen. Ihre Augen blickten unverändert scharf und ihr Geist öffnete sich allen Arten der Gelehrsamkeit und Weisheit. Sie alterten nicht, sondern bewahrten bis ans Ende ihrer Tage das Aussehen der ewigen Jugend. Das Gesetz der Ehre schrieb vor, dass jeder König oder jede Königin von Atlantis drei mal dreiunddreiÃig Jahre herrschen durfte. Wenn sie diese Altersgrenze überschritten hatten, nahmen sie freiwillig einen Trunk ein, der aus der gleichen Pflanze hergestellt wurde, die jedoch auf dem nördlichen Hang des heiligen Berges wächst. Sie bewirkte, dass jeder Herrscher über Atlantis schmerzlos aus dem Leben schied. Somit konnte das Amt dem rechtmäÃigen Nachfolger übergeben werden. Die sterblichen Hüllen der Könige und Königinnen wurden nicht in der Dunkelheit einer Grabkammer eingeschlossen, sondern nach einer besonderen Vorbehandlung mit Orichalk übergossen und als Standbilder aufgerichtet. So verlieÃen sie nie ganz den Palast, in dem sie geherrscht hatten, und ihre Seelen wachten vom Jenseits her über das Wohlergehen des Königreiches â¦Â«
Usir nickte ungeduldig. Das war ihm alles bekannt. Er wollte etwas einwenden, doch er spürte, dass jedes seiner Worte jetzt unangebracht wäre, und so schwieg er. Torr unterbrach sich und gab ihm ein Zeichen. »Sieh nach, ob uns niemand belauscht.«
Usir näherte sich den Türöffnungen, zog alle Vorhänge auseinander. Er entdeckte nichts Verdächtiges. Als er wieder in das Gemach kam, hatte Torr die Lampe angezündet. Die Flamme erhellte die Dunkelheit mit ihrem tanzenden Schein. Usirs Blick wurde durch den Smaragd fasziniert, in dessen grünen Tiefen das gleiche Feuer zu funkeln schien, das auch in den Augen der gefangenen Amazone brannte. Er versuchte Isa aus seinen Gedanken zu bannen und richtete seine Blicke erwartungsvoll auf Torr. Dieser fuhr fort: »Du weiÃt, dass das atlantidische Königsgeschlecht von jeher dem Mutterrecht unterstand. Stets wurde in Poseidonis dem ersten Kind der ältesten Königstochter die Herrschaft übertragen â¦Â«
Torr schwieg und rieb sich nachdenklich das Kinn. Usir vermied es, eine Frage zu stellen, und wartete, bis er wieder zu sprechen begann.
»Atara war die älteste Tochter und dem Gesetz nach die rechtmäÃige Erbin. Sie war von seltener Schönheit, doch in ihr zeigte sich bereits der Verfall der angeborenen Fähigkeiten an. Sie war ein überempfindliches, zart fühlendes Mädchen; sie liebte die Wissenschaften, die Dichtkunst, die Musik, aber es fehlte ihr das Wesentliche: die Kraft zu urteilen, zu entscheiden und zu handeln. Zu jener Zeit wurde unser Land von den Barbaren bedroht. König Abatakal veranstaltete zahlreiche Kriegszüge, um sein Reich zu schützen. Er hatte die vorgeschriebene Altersgrenze bald erreicht; es lag ihm viel daran, bevor er dieses Leben verlieÃ, seiner Tochter ein gefestigtes Königreich zu hinterlassen. Doch Atlar, sein jüngster Sohn, beging den Frevel, sich dem althergebrachten Mutterrecht entgegenzustellen und die Herrschaft für sich zu beanspruchen. Als Abatakal davon erfuhr, geriet er in groÃen Zorn. Er wies seinen Sohn vom Hof und schickte ihn in die Verbannung. Dann, als seine Zeit gekommen war, schied er freiwillig aus dem Leben. Atara wurde Königin von Atlantis. Bald darauf verliebte sich die Herrscherin in einen jungen Mann, der nicht königlichem Geschlecht entstammte. Er war bereits in seiner Jugend ein begnadeter Künstler, ein Harfenist, dessen Spiel das Herz eines jeden entzückte. Seine Kunst war
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