Zweibeiner sehen dich an
Zeitlang hatte er mit dem Gedanken gespielt, irgendwelche Notizen auf ein Blatt Papier zu schreiben und sie der Menge draußen hinzuhalten, aber es war sicher, daß man ihn dann in einem anderen Raum unterbringen würde – und dann würde er nicht mehr beobachten können, ob Tassen sich in der Nahe aufhielt.
Am dritten Tag – nach dem Frühstück – wurde Emma zurückgebracht. Sie sah blaß aus, und in ihren Augen war ein wilder Ausdruck. Ihre Federn waren unordentlich. Sie sah den Zweifüßler wortlos an, als sie an ihm vorüberging, aber ihr Blick war nicht zu deuten. War er sehnsüchtig, vorwurfsvoll oder was sonst?
Er ertappte sich dabei, daß er sich Sorgen um sie machte. Er wollte mit ihr sprechen, aber sie verließ ihr Zimmer nicht. Später kam Otto. Er blieb im Türrahmen stehen und grollte: „Du sollst ’raufkommen zu ’nem Interview. Los, mach’ schon.“
Das Herz des Zweifüßlers schlug wild, als er aufsprang. „Diesmal ohne Seife?“ fragte er ironisch, aber der Wärter glotzte ihn nur verständnislos an. Sie gingen diesmal an Grücks Büro vorbei, den Gang entlang in ein kleines Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors. Das Zimmer war bis auf einen Tisch und zwei Stühle leer.
Otto hielt ihm kommentarlos die Tür auf, wartete ab, bis der Zweifüßler das Zimmer betreten hatte und schloß sie hinter seinem Rücken. Der Zweifüßler sah sich aufgeregt um, aber es gab nichts zu sehen außer den drei Möbelstücken, den schwarzen Fliesen des Fußbodens und den schmutzigbraunen Wänden, die unbedingt eines neuen Anstrichs bedurften. Es dauerte eine gewisse Zeit, dann öffnete sich die Tür wieder und ein großer Mann mit olivfarbener Haut und einem roten Mantel erschien. Hinter ihm erspähte der Zweifüßler das Ungeheuer Grück und hörte dessen unterwürfige Stimme.
„Natürlich, lieber Herr Opatescu! Gewiß! Wir haben uns schon immer gewünscht …“
„Glauben Sie nur nicht, daß ich Ihnen das abnehme“, unterbrach ihn der Mann wütend. „Wenn ich nicht zum Rathaus gegangen wäre …“
„Sie irren sich, Herr Opatescu, ich versichere es Ihnen. Wir wünschten nur …“
„Was Sie wünschen“, knurrte Opatescu sarkastisch, „kann ich mir lebhaft vorstellen. Gehen Sie weiter, ich habe jetzt ein für allemal genug davon.“
Grück zog sich zurück. Er sah gedemütigt aus, als der Besucher die Tür hinter sich schloß. Der Mann trug eine schwere Aktentasche aus Schweinsleder, die er sorgfältig auf den Tisch stellte. Dann kam er mit einem Lächeln auf den Zweifüßler zu und schüttelte herzlich dessen Hand. „Wir Zeitungsmenschen müssen zusammenhalten, wenn es gilt, mit einem Schurken wie dem zu verhandeln. – Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle? Mein Name ist Opatescu. Sie haben ja keine Ahnung, welche Tricks und Vorwände man benutzt hat, um mich draußen zu halten. Aber nun bin ich hier. Also, Herr Naumchik …“ Er machte sich an seiner Aktentasche zu schaffen, holte ein flaches Tonbandgerät und ein Mikrofon heraus.
„Hier, bitte, setzen Sie sich – so.“ Er baute das Mikrofon auf, steuerte das Gerät aus und wartete. Opatescu setzte sich hin, ohne seinen Mantel abzulegen.
„Diese Aufnahme wird am 17. Juni 2002 im Berliner Zoo gemacht. Anwesend sind Martin Naumchik, bekannt als Fritz, der Zweifüßler und der Reporter Opatescu.“ Er rutschte hin und her, bis er bequem genug saß und sprach weiter. „Zunächst möchte ich Ihnen versichern, daß ich glaube, daß Sie mit Martin Naumchik identisch sind. Ich möchte, daß Sie mir nun in Ihren eigenen Worten erzählen, welch unfaßbares Erlebnis Sie hatten. Bitte, beginnen Sie.“
Obwohl Opatescu ihm nicht sonderlich sympathisch erschien – er verkörperte genau jene Sorte von Journalisten, die gemeinhin für die zentraleuropäische Klatschpresse arbeiteten – mußte er mit ihm zusammenarbeiten, denn der Mann hatte Partei für ihn ergriffen und die Chance, daß sein Fall noch einmal aufgenommen wurde …
Opatescu hörte ihm ruhig zu, ohne ihn zu unterbrechen. Als der Zweifüßler seine Geschichte beendet hatte, ging der Reporter die ganze Angelegenheit mit einer Gründlichkeit, die den Zweifüßler zwang, sein vorgefaßtes Urteil über ihn zu revidieren, noch einmal durch. Er stellte Fragen, wollte Details wissen und gab einzelne Punkte mit eigenen Worten wieder. Er schien zufrieden zu sein und begann, den Zweifüßler nach seiner Vergangenheit auszufragen, wobei er sich besonders für jene Einzelheiten
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