Zweiherz
mit?«, fragte Will.
Kaye nickte, ein wenig überrascht über seine Bitte. »Warum nicht?«
Sie fuhr ein Stück in Richtung Window Rock und bog dann hinter dem großen Krankenhauskomplex, einem grauen Flachbau, nach rechts. An einer Abzweigung wollte Will aussteigen. Er sprang aus dem Jeep und sagte: »Danke fürs Mitnehmen.«
»Kennst du hier jemanden?«, wollte Kaye wissen. Am Ende der unbefestigten Straße sah sie ein Haus, daneben einen Hogan. Das Blech eines Windrades blinkte in der Sonne.
»Ja«, sagte Will. »Hier wohnen die Yazzies. Ich will Maria besuchen.«
»Na dann, viel Spaß!«
Kaye kannte Maria Yazzie aus der Schule. Das Mädchen war mit Will in eine Klasse gegangen und hatte immer die volle Aufmerksamkeit sämtlicher Jungen gehabt. Maria war eine kleine Schönheit und daran hatte sich bis heute nichts geändert. Vor einem Jahr war sie zur Miss Navajo Nation gewählt worden.
Was aber wollte Will bei ihr?
Das fragte sich Kaye beunruhigt, bis sie das schmucke Holzhaus ihres Onkels in Fort Defiance erreicht hatte.
6. Kapitel
D er Name des Ortes, Fort Defiance, erinnerte an die schlimmste Zeit in der Geschichte des Navajo-Volkes. Jedes Kind im Big Res konnte vom »Langen Marsch« zum Bosque Redondo erzählen, wie die Navajos Fort Sumner in New Mexico damals nannten. Hunderte Frauen, Männer und Kinder starben auf diesem Marsch, weil sie erfroren, verhungerten oder erschossen wurden, weil sie zu schwach waren, um weiterzulaufen. Colonel Kit Carson, nach dem die Hauptstraße durch den Ort benannt war, hatte von Fort Defiance aus versucht, die als Diebe und Plünderer verrufenen Navajos endgültig in die Knie zu zwingen. In nur fünf Monaten schafften es Carsons Truppen, fast alle Maisfelder und Pfirsichplantagen der Indianer zu zerstören, ihre Schafherden zu töten und die Pferde einzufangen.
Ein großer Teil der Navajos flüchtete damals in den Canyon de Chelley, weil sie ihn wegen seiner vielen Verzweigungen für uneinnehmbar hielten. Aber Carsons Truppen verstellten den Eingang des Canyons und irgendwann gaben die hungernden Menschen verzweifelt auf.
Es war Anfang Februar 1864, als Tausende Navajos nach Bosque Redondo verschleppt wurden. Auf dem vierhundert Kilometer langen Marsch starben Hunderte von ihnen. Und auch im Lager von Fort Sumner, wo sie unter unerträglichen Bedingungen leben mussten, hörte das Sterben nicht auf. Nach vier qualvollen Jahren durften die Überlebenden schließlich auf ihr Stammesland zurückkehren.
Kaye registrierte die nagelneuen Straßenschilder, die erst vor wenigen Wochen angeschraubt worden waren. Die alten Schilder hatten jahrelang viel Ärger hervorgerufen, weil der Name des Colonel unter den Navajos ständig Erinnerungen an den Völkermord wachrief. Der Bürgermeister von Fort Defiance hatte die Stammesregierung schließlich aufgefordert, den Kit Carson Drive umzubenennen. Die meisten Bewohner hatten dafür gestimmt, den Straßennamen auf Tséhootsoí , »Wiese zwischen den Steinen«, zu ändern, was der ursprüngliche Navajo-Name für die Gegend war.
Wiese zwischen den Steinen . Das war ein schöner Name. Kaye kannte Fort Defiance gut, denn sie war hier zur Schule gegangen, genauso wie die meisten ihrer Freunde. Auch Will hatte an der Tse-Ho-Tso-Middleschool gelernt, bis sein Vater ihn auf diese Internatsschule in der Nähe von Santa Fe gesteckt hatte. Was war dort bloß passiert? Um Will zu verstehen, musste sie es herausfinden. Und vielleicht konnte Onkel Thomas dabei helfen.
Das Haus von Thomas Totsoni stand am Rand des Ortes in einer grünen Talsenke und war von Pappeln, Tamarisken und stachligen Mesquitebüschen umgeben. Die Familie besaß zwei Pferde, zwei Hunde und ein paar Schafe. Thomas Totsoni war Lieutenant bei der Stammespolizei in Window Rock.
Die Hunde bellten, als Kaye die Stufen zur Veranda hinaufstieg. Sie musste zweimal laut an die Tür klopfen, bevor sich im Inneren des Hauses etwas regte.
» Déya , ich komme!« Ein großer Mann mit langem Pferdeschwanz trat auf die Veranda und nahm Kaye sofort herzlich in die Arme. »Kaye ist gekommen!«, rief er ins Haus hinein, und bald war sie von einer Horde halbwüchsiger Indianerkinder umringt.
Kaye nahm jeden Einzelnen ihrer Nichten und Neffen in die Arme. Shannon, das älteste Mädchen, Pete und Talai, die vierzehnjährigen Zwillinge, Micky und Lisa - das Nesthäkchen. Lisa hängte sich an Kayes Hals und quietschte vor Freude.
»Komm erst einmal herein«, sagte Thomas. »Wilma wird
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